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TOM WOLFE:
Skulptur & Lokalität
Ausstellung in der Galerie Gertrude Stein, New York,
kuratiert von Boris Lurie (1964)

Sam Goodman ist klein, wirkt plump, sieht struppig und zerknittert aus,  ist 45 und fühlt sich nie zu alt für das Leben eines professionellen Protestkünstlers. Er und sein Freund Boris Lurie arbeiteten sieben lange Jahre unten auf der Lower East Side, schockierten die Bourgeoisie und revoltierten gegen das Establishment. Und das ist genau der wunde Punkt in ihrem Leben.

Die Bourgeoisie zu schocken wird immer härter und schwieriger. Die Leute sind nämlich mittlerweile soweit runtergekommen, dass sie alles akzeptieren, was man ihnen im Namen der Kunst an den Kopf schmeißt, als da sind: elende verbogene Autostoßstangen, alte, aus der Leinwand rausragende Duschdüsen, einfach alles mögliche, und man bringt sich dann immer noch um vor Begeisterung! Vor einiger Zeit zogen Boris und Sam mal so was wie ihre Vulgär-Ausstellung auf. Mit aus Pornomagazinen rausgerissenen Seiten, schmalhüftige Frauen mit gespreizten Schenkeln. Ich erwähne hier mal nur eine von den erwähnenswerten Sachen.

Und was geschieht? All die Babbits kamen vorbei - Boris pflegte sie so zu titulieren -, hauptsächlich waren es Kritiker und andere intellektuelle Ästheten, und sagten in einem fort Sachen wie: Das ist sehr schön, Sam, sehr schön, Boris, macht nur weiter so, wir stehen zu Euch in Eurem heroischen Kampf. Na gut, sagte Sam, den „Schuh" habt ihr euch angezogen, mal sehen, ob euch auch der nächste passt.

Der nächste, das war dann die neueste Ausstellung, die am nächsten Abend im sehr eleganten Stadthaus von Gertrude Stein in der 81ten Straße eröffnet wurde. Goodman und Lurie saßen da auf dem Fußboden der Galerie, nicht weit von der Madison Avenue, inmitten von einundzwanzig modellierten Scheißehaufen. Ja, das waren 75 Jahre moderne Kunst, die mit einer unbestechlichen Logik sich bis zu dieser Situation hin bei ihnen entwickelt hatte. Die beiden hatten das auch nicht so gestaltet, damit das nur vage an Scheiße erinnern sollte, geschweige denn Scheiße mehr oder weniger ähnelte oder etwa wie „abstrahierte" Scheiße aussah. Sie stellten auch nicht alles auf Podeste, nein, alles lag flach auf dem Fußboden verstreut rum, sogar ein mächtiger Haufen, der an die 250 kg wog. Die ganze Scheiße hatten sie so exakt gestaltet, wie es ihnen mit ihrer 25jährigen künstlerischen Erfahrung in der Tradition von Cezanne, Picasso und Matisse möglich war.

Ja,  Boris hatte angefangen, Scheiße zu modellieren. Mal seh’n, ob die Leute sich den „Schuh" anziehen können. „Ich drücke das einfach so raus", sagte Sam immer wieder. „Ich benutze dazu so was ähnliches wie Mörtel. Und wisst ihr wie? Ich quetsche alles durch 'ne Röhre oder was anderes. Ich weiß es nicht genau, vielleicht ist es Gips oder Mörtel. Alles durch 'ne Röhre gezogen. Ich kann's euch nicht genau erklären, sonst würden das alle gleich nachmachen."

Mister Goodmans Freunde bestätigten ihm, dass er ein wirklicher Erfinder sei und er tatsächlich aufpassen müsse, daß ihm andere Künstler nicht seine Ideen klauen. Er hatte wirklich 'ne Menge wichtiger Ideen. Einige Jahre nach der Vulgär-Show machten er und Boris die Untergangsausstellung (Doom-Show). Einer von Sams Beiträgen waren angebrannte Babypuppen mit abgerissenen Köpfen, die eingebettet in verbrannten Sprungfedermatratzen rum lagen. Und tatsächlich, arbeitete da nicht einige Monate danach eine der führenden Pop-Künstlerinnen in ihrer Ausstellung mit angebrannten Babypuppen? Genau!  Und wenn die Kritiker die Scheiße in den Himmel loben würden, wie es, laut Boris, die Leute taten, die in die Gertrude Stein Galerie gekommen waren, dann wäre, um Himmelswillen,  jeder zweite Künstler in dieser Stadt scharf darauf, hinter das Geheimnis zu kommen, wie man Scheiße herstellt.

Die Leute sind wirklich frustrierend. Sie kommen einfach nicht aus sich heraus, wollen nicht schockiert werden. Sie, das sind die von der New Yorker Kulturschickeria, betrachten angespannt die Hügel da auf dem Fußboden und reden in ihrem Jargon über Masse, Spannungen, Ausdruck, Ambiente usw. Boris tobte vor Wut: „Diese Leute sind so von der Ästhetik der Modernen Kunst und dem zweideutigen Gequatsche eingeschüchtert, dass sie Angst davor haben, die Sachen als das anzusehen, was sie sind, nämlich Scheiße. Sie wollen das alles nur als Skulptur ansehen, sie kommen rein, packen alles an und reden dann über die „Form' . Ich glaube, die sind zu verängstigt, das zu sagen, was sie bei dem sogenannten „Kunstwerk" für ein Gefühl haben."

Nach Boris' Meinung sind die Kritiker durch die modellierte Scheiße in die Ecke gedrängt worden. Und was haben sie bisher nicht alles in den Himmel gelobt: Müllskulpturen, Objects trouvé, alte Autoreifen auf Podesten, Bilder von Campbells Suppendosen und Love Comics. Wenn sie bei all den Sachen so voll des Lobes sind, sollen sie doch mal die Scheiße in den Himmel loben.

Ja, und Miss Stein — sie ist übrigens nicht mit Gertrude Stein verwandt, die für die ausgewanderten amerikanischen Schriftsteller im Paris der Zwanziger Jahre der Groß-Guru war, so z.B. für Hemingway — erklärte den Kritikern auch noch, wie sie einen Zugang zu der Ausstellung finden könnten, wenn sie die bisher abgelaufene Kunstgeschichte verstanden haben sollten. „Macht Euch doch mal von den NO!-Plastiken Bronzeabgüsse! Dann habt Ihr die ganze Geschichte der Modernen Kunst bis jetzt auf einen Schlag zusammengefasst."

Doch dieses Gerede um Kritikerbeifall und Akzeptanz beunruhigte Sam Goodman ganz schön. Er blickte auf die einundzwanzig Haufen da am Boden herab und sagte: „Verdammt noch mal, ich weiß gar nicht, wie weit ich noch gehen muss. Entweder mache ich einen Trip zurück, zurück in den Mutterleib, oder vielleicht sollte ich eher weiter vorwärts stürmen und ein Happening veranstalten, bei dem ich öffentlich Selbstmord begehe."

Publiziert in: Lurie, Boris; Krim, Seymour: NO!art, Köln 1988

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TOM WOLFE: Kritischer und satirischer Beobachter von inoffiziell sanktionierten, pseudo-anarchistischen, gesellschaftlichen und kulturellen Randerscheinungen in der Konsumgesellschaft (The Pumphouse Gang); unternahm höchst gefährliche Streifzüge in das Gebiet der Politik; Mau-Mauing, Bob and Spike, The Painted Word.

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