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MICHELLE STUART:
Nein heisst Engagement (1961)

Der Gegenstand ist nur ein Mittel, um unsere Aufmerksamkeit auf Erscheinungen zu lenken, uns dazu zu bringen, diese Erscheinungen zu durchdringen, um so zum geistigen Gehalt des Werkes zu gelangen. Es ist der Mensch, auf den es vor allem anderen ankommt.  Das ganze Werk  bezieht sich zunächst auf ihn und auf die Qualität der Empfindungen, die der Künstler in seiner Arbeit umzusetzen vermag. Der Inhalt ist eigentlich nie ein Ereignis, sondern eher die Ordnung - oder absichtliche Unordnung -, die der Geist zwischen den Ereignissen herzustellen vermag. Mit dem  Inhalt sind unsere moralischen oder religiösen Gefühle vermischt, die Instinkte, die unsere Handlungen bestimmen, und die Leidenschaften, die uns gleichzeitig grausam und mitleidig machen.

Reine Abstraktion kann Gefühle enthalten, die in der Geradheit einer Linie oder Kante liegen, in der Dramatik  eines Pinselstrichs oder in der Stille selbst; aber nur allzu oft ist sie auf prätentiöse Weise esoterisch. Die Künstler der March-Gruppe unterdrückten das Abbild nicht. Das Abbild, das genährt wurde aus inneren Strömen der Begeisterung und einer Gesinnung, die sich auf die Entwicklung und das Schicksal des ganzen Menschengeschlechts bezog.

Kunst ist stärker als Moral und auch  unschuldiger. Diese Leute sind in erster Linie Künstler, protestierende Künstler, aber keine sozialistischen Realisten. Man findet hier keine starre Lehre oder genormte Disziplin. Sie machen Vorschläge, Experimente, sie rebellieren im Grunde genommen auf eine romantische Art und Weise. Es ist nicht Aufgabe der Romantiker zu veredeln, sondern zu intensivieren, nicht zu lösen, sondern zu stimulieren. Die Montagen, Ölbilder, Collagen und Plastiken, die in der March Galerie geschaffen - und auch manchmal zerstört - wurden, haben keine Antwort gegeben. Aber sie haben Fragen gestellt, häufig gequälte Fragen, die uns alle angehen sollten. Die Wertbegriffe sind umschrieben mit den Benennungen der Ausstellungen: die Vulgär Show, die Doom Show, die Involvement Show.

Sie hatten keine Geduld mehr mit einer Kunst, die abseits des Lebens steht, und so haben diese Künstler Gegenstände verwendet, die sie aus der Umwelt selbst zusammengekehrt haben. Sie geben dem Abfall unserer Zivilisation Form und Bedeutung.

Sam Goodman hat aus den überquellenden Mülltonnen, Abfallhaufen und überschwemmten Rinnsteinen von New York die Gerippe  ausgebrannter Fernsehapparate, Spielzeugpistolen, verstümmelte Puppen, Krücken, Flugzeuge, Bomben, Bibeln, Spielzeugkassen, Kruzifixe und sogar einen Globus gerettet. Beim Zusammenmontieren dieser Gegenstände werden die Spielzeugpistolen zu bedrohlichen Waffen, die Puppen zu schreckensvollen Erinnerungen an die verkohlten Körper von Hiroshima oder Auschwitz, die Bibel wird zur entehrten Reinheit und die Spielzeugkasse zum entmutigenden Symbol der Macht.

Wir können nur innerhalb der Wertbegriffe unserer eigenen Zeit handeln, die im Zeitraum von fünfzig Jahren siebzig Millionen Menschenleben entwurzelt, versklavt und getötet hat. Wir müssen unsere Unschuld in Frage stellen. Genau dazu fordert uns Goodman auf.

Stanley Fishers Mißgeburten und Wahnsinnige in ihrer kaleidoskophaften Verwirrung könnten wir vielleicht auf der Straße herumlaufen sehen, falls es uns je gelingen würde, unsere beschränkte Wirklichkeit zu durchbrechen. Die Unvernunft und Roheit der Massen, die Spannung, die Landschaft aus Zahnpasta-Zigaretten-Werbung gibt es ja tatsächlich. In zerstückelten Montagen und Collagen erforscht er mit hitzigen Farben und voller Aggressionen das Prisma der Sünde mit puritanischem Entzücken. Boris Luries große Collagetransfer-Gemälde  wirbeln in einem Rausch des Fleisches. Sie sind voller spitzenbehoster und ballonbrüstiger Akte, die Venus und Sirene in einer Person verkörpernd, die die Verzerrung der Werte in unserer Gesellschaft anzeigen. Die wahre Erfüllung für den Mann, der seinem Verlangen absolut freien Lauf läßt und der alles beherrschen muß, scheint im Haß zu liegen. Lurie sagt: „Freiheit oder Tod!" Aber nicht Ausschweifung auf jeder Ebene. Seine jüngsten Bilder erinnern an Camus Was ist ein Rebell?. Jemand, der NEIN! sagt, aber seine Ablehnung ist keine Verneinung. Er ist auch jemand, der Ja! sagt, von dem Moment an, da er die erste Geste des Widerstandes erfährt. Die Unordnung in diesen ätzenden Collagen drückt einen Anspruch auf Ordnung  aus. Luries Rebellion ist der Wunsch nach Ordnung. Luries Rebellion ist ein Wunsch nach Klarheit und Einheit. Dies ist unsere Realität. Wenn wir sie nicht ignorieren wollen, müssen wir unsere Werte darin finden.

Seit 1948 hat Lurie Pin-up aus der Hurenwelt von Thinker Bell bis hin zur Kino-Aristokratie unverändert übernommen, aber auch ganze Reklameobjekte wie die Heinz Bean Cans, eine Vorwegnahme späterer Dosen und Königinnen. Schilder und Photos der Gewalt und Ungerechtigkeit formen Muster auf dem Pin-up-Echo  Evas; sie sind gleichzeitig persönliche Phantasien und Obsessionen sowie Symbole für Todes-Bacchanalien en gros, die uns vertraut sind.

Die March  Galerie  ist ein Beispiel für das fortgesetzte Bedürfnis des Künstlers, die Welt neu zu bewerten, neu zu definieren unter Verwendung aller erdenklichen Mittel, nur um lebensfähig zu bleiben. Da die Begeisterung, die wir dank der Kunst dem Leben abgewinnen, von allem abhängt, auch von deren Schrecken, ist es letztlich das Ziel der Kunst, uns von unserem Einverständnis mit dem Leben loszureißen.

Publiziert in: Lurie, Boris; Krim, Seymour: NO!art, Köln 1988

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MICHELLE STUART: Geboren 1940 in Borrego Springs (Kalifornien). Studierte an der New School of Social Research in New York. Kritische Künstlerin und Schriftstellerin. War schon Mitglied der NO!art-Gruppe in den frühen 60er Jahren. Zahlreiche Ausstellungen in den Vereinigten Staaten, Europa und Japan. — Lebt in New York.

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