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MICHELLE STUART:
Die March Galerie (1995)

Ich habe keine große Erinnerung an Sam oder Boris, außer der, dass Sam kontinuierlich Zigarre rauchte und Boris einem Vogel ähnlich Sonnenblumenkerne aß aus einer Papiertüte. Ich war sehr beeindruckt von ihren sehr heftigen Arbeiten. Zurückblickend vermute ich, dass sie und Stanley Fisher uns - auf jeden Fall, was die Frauen angeht - vor allem deshalb einluden, in der Galerie mit auszustellen, weil unsere Anwesenheit ihrem Bemühen entgegenkam, eine politische Bewegung in einer allgemein sehr unpolitischen Atmosphäre zu initiieren. Boris, Europäer von Geburt und Opfer des Holocaust, hatte anscheinend die größte Berechtigung, Kunst in den Dienst sozialer und politischer Wut zu stellen. Wenn ich heute darüber nachdenke, komme ich zu dem Schluss, daß sich das politische Engagement von der restlichen Gruppe darauf beschränkte, bewusst und einfühlsam zu sein.

Die politische Atmosphäre

Als ich aus Europa in die USA zurückkehrte, konnte ich feststellen, dass sich meine gleichaltrigen Künstlerkollegen, und stärker noch die älteren Künstler, offensichtlich nicht für Politik interessierten. Vielleicht wollten die Leute in Folge des Krieges und der McCarthy-Ära einfach nur "ihr Leben führen". Ich erinnere mich daran, wie ich diese - von mir als Apathie erkannte - Haltung der meisten Leute meiner Umgebung gegenüber den Vorgängen in der Welt und sogar in den USA, z. B. gegenüber Menschen anderer Hautfarbe oder Frauen, verurteilte. Es mag komisch klingen, besonders nach der Politisierung in den sechziger Jahren, aber in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren musste man couragiert sein, um sich politisch zu äußern. Nur wenige Leute wollten mit politischen Haltungen oder Strömungen in Verbindung gebracht werden. Ich glaube, dies war das Ergebnis der McCarthy-Ära zum einen und zum anderen der Ernüchterung der Linken über den Stalinismus. Weiter oben benutzte ich den Begriff "offensichtlich", da ich glaube, dass die meisten Künstler jener Zeit, zumindest in New York, sehr wohl ein Gespür für Ungerechtigkeit und Diskriminierung besaßen, sie wollten es jedoch nicht zum Thema machen und somit in ihre Arbeit integrieren. Der Abstrakte Expressionismus und die nachfolgende Künstlergeneration wollten die politische Ausrichtung, die ihnen in der Tat einen Teil ihrer Jugend genommen hatte, ad acta legen. Die nächste Generation wiederum wollte sich mit der inneren Befindlichkeit auseinandersetzen, bis sie durch Vietnam mit den realen Verhältnissen konfrontiert wurde, die sie bis dahin nicht wahrgenommen hatte, während sie ihre Psyche ergründete und massierte.

Mein Werk

Die Skulptur aus Gips und Mischtechnik, an der ich damals arbeitete, hatte einen sehr autobiographischen Charakter. Ich fertigte Gipsabdrücke von Teilen meines Körpers und tat dies ebenso mit allen möglichen Dingen, einschließlich Schreibmaschinen und Schusswaffen, um so mittels vorgefundener Objekte Vorstellungen nahezukommen, die ich unbedingt zum Ausdruck bringen wollte. Nach heutigen Kriterien handelte es sich um eine politische Arbeit. Ich arbeitete damals immer noch an Ideen, die sich während meiner kurzen Assistenz bei Diego Rivera entwickelt hatten und auch durch die spanischen Republikaner, die ich aus Mexiko oder Paris kannte, geprägt worden waren. Die meisten meiner damaligen Arbeiten waren weiblicher und poetischer Natur und befassten sich mit der Verdrängung der Frauen. Sie waren weniger politisch im üblichen Sinne, obgleich ich damals auch an großen Reliefs über den Krieg und den Holocaust arbeitete. Da ich noch sehr jung war, glaubte ich noch an die Möglichkeit, uns durch den Ausdruck der Kunst befreien zu können.

Publiziert in: NO!, Ausstellungskatalog, Berlin 1995

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MICHELLE STUART: Geboren 1940 in Borrego Springs (Kalifornien). Studierte an der New School of Social Research in New York. Kritische Künstlerin und Schriftstellerin. War schon Mitglied der NO!art-Gruppe in den frühen 60er Jahren. Zahlreiche Ausstellungen in den Vereinigten Staaten, Europa und Japan. — Lebt in New York.

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