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INGA SCHWEDE:
Naomi Tereza Salmon meets Boris Lurie (2003)

Mit der Ausstellung optimistic — disease — facility: Boris Lurie, New York — Buchenwald, die derzeit in der Gedenkstätte Buchenwald zu sehen ist, eröffnet die Fotografin Naomi Tereza Salmon den Blick in Wohnung und Atelier des NO!art-Künstlers Boris Lurie.

„Naomi sammelte jahrelang Überbleibsel von persönlichen Objekten der Gefangenen im KaZet Buchenwald, um sie zu fotografieren, wie Esslöffel oder auch Zahnbürsten, die sich im Sand bisdann verborgen hielten. Jetzt wurden solch zu ‚Kunst’, und uns zur Erweckung der Vergagenheit. Die sprechen eine Sprache, die einfache Worte nicht zum Wiederleben bringen können. Ob meine jetzige Wohnung in New York auch in diese Kategorie einfällt, weiß ich nicht, doch ist es schon möglich ...“ (Boris Lurie: Einige schnelle Worte, 2003)

Anfang der 1990er Jahre führte Salmon ihr Projekt Asservate von Jerusalem nach Weimar: Die junge Israelin erhielt nach ihrem Fotografiestudium von der Gedenkstätte Yad Yashem den Auftrag, die dort verwahrten Objekte zu deren besseren Inventarisierung zu fotografieren. Dabei handelte es sich um Relikte, spärliche Überreste persönlicher Gegenstände, die massenhaft in den europäischen Ghettos und Konzentrationslagern zurückgeblieben waren. „Während des sachlichen Abfotografierens wurden die Dinge beredt. (...) Meine Aufgabe habe ich darin gesehen, mich während des Akts des Fotografierens unsichtbar zu machen — um der Sichtbarkeit der Dinge willen.“ (Salmon: Asservate, 1995). Was als Job begann, wurde zu einer eigenständigen künstlerischen Arbeitsweise: Scharfsinnig und feinfühlig lässt sie sich auf die Objekte ein und verhilft ihnen zur Sprache. Weitere Aufnahmen entstanden in den Archiven von Buchenwald und Auschwitz. Für Asservate holt sie die Relikte aus den Archiven an die Öffentlichkeit.

In Arbeiten wie DDR-Beutel 1:1 (1998) oder Black Box — Souvenirs aus Israel (1999) lässt sie Alltagsgegenstände von heute für sich und über die Gesellschaft sprechen, der sie entstammen. Die politische Situation in Israel beschäftigt sie; ihre gefühlten und geistigen Wurzeln sieht sie aber nicht nur in Israel sondern auch in Palästina, Deutschland, Polen, Japan und Usbekistan, was sie in ihrem Langzeitprojekt My personal Roots und anderen konzeptionellen Arbeiten teilweise ironisch dokumentiert. Mit optimistic — disease — facility übersetzt sie ihre Begegnung mit Boris Lurie in den Ausstellungsraum.

Naomi Tereza Salmon und Boris Lurie lernten sich 1998 kennen, als er zu der Retrospektive Boris Lurie: Werke 1946 — 1998 aus New York in die Gedenkstätte Buchenwald kam — zum ersten Mal nach seiner Befreiung im April 1945 aus dem Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald in Magdeburg. Salmon begleitete seinen Besuch für die Gedenkstätte mit der Kamera.

Als Boris Lurie 1945 nach New York emigrierte, lagen hinter dem 21-jährigen vier Jahre in verschiedenen Arbeits- und Konzentrationslagern. Bei seiner Deportation aus Riga 1941 wurde er Zeuge der „großen Aktion“ in Riga-Rumbula, bei der seine Mutter, Großmutter, Schwester und seine Freundin ermordet wurden.

Nach dem Krieg zeigten auflagenstarke amerikanische Magazine wie „Life“ oder „News Week“ die Dokumentarfotos, die nach der Befreiung der KZs entstanden sind. Diese gingen aber zwischen anderen News, Reklame und ersten Pin-ups im Tagesgeschäft unter. Als Reaktion auf eine Gesellschaft, die sich im Wohlstand einrichtete und auf eine Kunstproduktion, die dazu die Hintergrundbilder lieferte, entwickelte Lurie seinen radikalen Stil: Seit den späten 1950er Jahren verarbeitet er Massen von Pin-ups zu Collagen und überzieht sie teilweise mit Menstruationsblut und Exkrementen aus Wachs und Dreck. Er kontextualisiert immer wieder Pin-ups mit Bildern von KZ-Häftlingen, wie in Saturation Paintings (Buchenwald), 1959—64 und „treibt damit das Spiel der Warenwelt zynisch und aggressiv auf die Spitze.“

Parallel zu seinen bildnerischen Arbeiten hat Lurie fortlaufend kritische Anmerkungen und Reflexionen zu NO!art, Kunst, Leben und Politik verfasst. Seine eigenen Texte sind nach wie vor das Beste, was zu seiner Kunst geschrieben wurde: „Das wichtigste Symbol meiner Arbeit und das Leitmotiv, welches alles in einem Wort ausdrückt ohne ästhetisch oder politisch abzudriften, ist NO.“ (Lurie, 1995).

In seinem lyrischen Werk[2] hat er eine Sprache entwickelt, die sich aus dem Baltendeutsch seiner Kindheit und amerikanisch-englischen Wortfragmenten zusammensetzt: „Ich möchte nicht, / Herr Mister Dreamsberg, / dass meiner Mutter ’hackte Knochen / den allerletzten Strip-Tease / in Zellophan geschmiedet / für Euresgleichen machen. / Wenn sie für Stalin tanzen sollte / dann wär’s OK.“ Einige Gedichte sind drastisch wie die Collagen. Andere sind leiser und subtiler. Manche eignen sich für Künstlerpostkarten. Eine wurde bereits publiziert. Was Lurie wohl davon hält, dass sein Satz „Meine Sympathie ist mit der Maus, doch ich füttere die Katze“ fortan WG-Küchen schmückt?

Andernorts provoziert und polarisiert Luries Kunst noch heute. Im Katalog zu „Mirroring Evil“ sorgt sein Saturation Paintings (Buchenwald), 1959—64, wie die gesamte Ausstellung des Jewish Museum, New York (2002), für Empörung. Zbigniew Libera mit seinen LEGO Concentration Camp Set oder Alan Schechner mit It’s the real thing — selfportrait at Buchenwald steigen ebenso zynisch, aber wesentlich „cooler“ in das Spiel ein. Lurie dagegen ist von dem Erlebten geprägt. Seine Kunst attackiert die Gesellschaft. , die die sozialen und politischen Bedingungen, die Auschwitz ermöglichten, nicht beseitigt hat. Sie ist dabei weder sentimental noch vergangenheitsbewältigend. Luries Kunst bleibt unversöhnt.[3]

Der Blick in Luries Wohnung, den Naomi Tereza Salmon mit optimistic — disease — facility eröffnet, lässt erahnen, wie konsequent Luries Kunst Ausdruck dessen ist, was er tagtäglich lebt: Zeitungsüberschriften, Pin-ups, NO!art-Schriftzüge, die Bilder seiner ermordeten Angehörigen, die er irgendwie über die KZs retten konnte, und Bilder von „Vater Stalin“ haben sich in einem jahrzehntelangen Prozess zu einer riesigen Wandcollage verdichtet.

Salmon begegnet Luries Wohnung mit künstlerischem Blick. Ihre Fotos gehen über die bloße Dokumentation hinaus. Sie tut ihrem Gegenstand damit aber keinen Gefallen. Ihre Bildausschnitte neigen dazu, das Objekt zu ästhetisieren. Die Drastik, die Luries Wohnung durchwirkt, bleibt auf der Strecke. In der Assemblage aus Möbeln, abenteuerlichen Lampenkonstruktionen, einem kleinen historischen SW-Fernseher, mechanischen Schreibmaschinen, Stapeln von „New York Times“ und Börsennachrichten, Essensresten und hundertmal benutzten Pappbechern wird die tote Ratte zum Detail, ihr Verwesungsgeruch komplett ausgeblendet. Die Fotos bleiben weit hinter dem zurück, was in dem Objekt steckt.

In der Ausstellung im 2. Obergeschoss des ehemaligen Kammergebäudes des Konzentrationslagers Buchenwald treten die Fotos von Luries New Yorker Wohnung mit dem Außenraum in Wechselbeziehung. Die Fenster, zwischen denen sie positioniert sind, geben den Blick auf das Krematorium und den Barackenbereich des ehemaligen KZs frei — heute ein weitläufiges graues Schotterfeld, auf dem sich die Grundrisse der ehemaligen Lagerbaracken dunkelgrau abheben. Buchenwald — New York — Buchenwald. Jeder Winkel von Luries Wohnung ist Ausdruck davon, das er die Konzentrationslager überlebt hat.

„Die kalte Luft / drängt sich / durch diese ungehobelt Bretter-Spalten. / Weißt du / was philosophisch-so-gesprochen / Was Kälte ist?“ und „UNBEDINGT / nach Peter Weiss’s Auschwitz-Lesen, / muss ich Ice-Cream essen. / ...“. Diese beiden Gedichte hat Lurie im August 1997 verfasst. Als Salmon ihn 2003 in New York besuchte, bat sie ihn, Gedichte für die Ausstellung auszuwählen. Salmon bringt sie in Frakturschrift an den Säulen des 750 qm großen, lang gestreckten Ausstellungsraums an. Die Fraktur und die Kante im Text, die dadurch entsteht, dass die Zeilen über je zwei Seiten der Säule laufen, erschweren es, die Gedichte zu lesen. Wer sich darauf einlässt, den lockt die Textinstallation hinein in den Raum und hinein in Luries lyrisches Werk.

Aus dem hinteren Teil des Raumes dringt Musik und Luries Stimme. „Die kalte Luft ...“, so beginnt Salmons Film, der das Kernstück der Ausstellung ist. Elemente, die der Ausstellungsbesucher bereits kennt, tauchen wieder auf: Lurie führt Salmon durch Wohnung und Atelier. Er erzählt von seinem ersten Besuch im Außenlager Magdeburg, fünfzig Jahre nach der Befreiung. Er erzählt, wie er Anfang der 1960er Jahre nach Riga reist und davon, wie er in Riga-Rumbula beginnt, die viel zu kleine Wiese abzuschreiten, unter der ein ganzes Dorf begraben liegen soll ...

Salmon gibt Lurie allen Raum zu erzählen. Die Intention der filmischen Mittel bleibt dabei stellenweise unklar. So lenken die Handkameraoptik und die Zeitrafferaufnahme einer Straßenkreuzung von der Begegnung mit Lurie ab, zu der die Choreografie der Ausstellung bis hier hin ja eingeladen hat. Ganz wesentlich zur Qualität des Films trägt der Sound von pingfm (Jan Brüggemeier, Weimar) bei. Er verwandelt die Klänge aus Luries Wohnung in ein mehrschichtiges Gewebe. Der Sound übersetzt, was mehr oder weniger unterschwellig in Luries Wohnung brodelt. Er gibt die Dringlichkeit und Unausweichlichkeit wieder, die Lurie umgibt, und überträgt sie auf den Rezipienten. Der Film schafft damit, was die Fotos sich nicht zutrauen.

„Sie haben eine Vorstellung, was Kunst sein sollte, und imitieren es dann nach, nach bester Möglichkeit. Doch Kunst wehrt sich, durch solch Chablone ausgelöst zu sein.“ Diese Zeilen von Boris Lurie sind auf einem Foto in der Ausstellung zu lesen. Naomi Tereza Salmon arbeitet ohne Schablone. Das macht die Qualität von Asservate und optimistic — disease — facility aus. 

Fußnoten:
[1] Reichelt, Matthias: Boris Lurie: Werke 1946 — 1998, Kunstforum, Bd. 145, 1999. Der Artikel bietet eine umfassende gesellschaftspolitische Einordnung von Luries Kunst.
[2] Lurie, Boris: Geschriebigtes-Gedichtigtes / Boris Lurie, Knigge, Holzboog, Kirves (Hg.), Stuttgart-Bad-Canstatt, 2003.
[3] Siehe auch: Lurie: Krim: NO!art, Pin-ups, Excrement, Protest, Jew-Art, Berlin/Köln, 1988. Und: NGBK (Hg.): NO!art, Berlin 1995.

Publiziert in: NO!art-Archiv, Berlin 2005

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