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MATTHIAS REICHELT:
NEIN zur Kunst!
Vorwort im Namen der NGBK-Arbeitsgruppe (1995)

Nein! Nein zur Kunst! Nicht-Kunst! Keine Kunst! Und dennoch Kunst produzieren. Das ist das Dilemma von NO!art. NO!art als Bewegung hat 1959 bis 1964 ein Problem thematisiert, das bis heute – zugegebenermaßen mit einer anderen Terminologie – immer wieder aufgegriffen wird: Wenn Kunst radikal sein will und die Widersprüche, zumal im fortgeschrittensten kapitalistischen System, den USA, mit allen seinen Folgeerscheinungen von Massenarbeitslosigkeit bis hin zur Massenverelendung, nicht nur erkennt, sondern auch verarbeitet, darf sie sich dann in den Kontext Kunst begeben, der wiederum integraler Bestandteil des Marktes ist und damit auch der Profitmaximierung unterliegt? Darf die Kunst also Teil des kritisierten Systems mit seinen menschenverachtenden Marktgesetzen werden? Heute lächeln wir in blasierter und „aufgeklärter“ Manier über solche Fragestellungen. Ja, neue Künstlergenerationen (Ausnahmen bestätigen die Regel) wollen häufig nur noch so schnell wie möglich Teil des Marktes werden, natürlich zu horrenden Preisen. Oben beschriebene Positionen gehören für sie zu dem obsoleten Gedankengut der 68er Generation. Natürlich ist uns klar, daß jede Kunst Bestandteil des Kontextes Kunst innerhalb der jeweiligen Gesellschaftsformation bleiben wird und ihr auch nicht entrinnen kann. Dennoch ist die Thematisierung dieses Circulus vitiosus lehrreich, macht sie doch Möglichkeiten und Grenzen von Kunst deutlich.

Warum also stellen wir 1995 die Werke der NO!art-Bewegung vor? Der wesentliche Grund für unsere Beschäftigung mit NO!art liegt in ihrer ästhetischen Radikalität, die bis heute ihresgleichen sucht. Wenn Kunst, die vor über 30 Jahren produziert wurde, es schafft, einen sprachlos zu machen, Widerwillen, Ekel hervorruft, abstößt und eben damit auch sinnlich Lektionen erteilt, dann besitzt sie eine enorme und ungebrochene Kraft. In der NO!art werden z.B. die Erfahrungen, die Boris Lurie als jüdischer Häftling während des deutschen Faschismus, permanent bedroht von der „Endlösung“, in einem Aussenlager des Konzentrationslagers Buchenwald machte, politisch in einen Zusammenhang gebracht, der den Holocaust mit der Realität unter dem System der westlichen „Demokratien“ verknüpft. Entwürdigung menschlicher Existenzen im deutschen Faschismus werden gnadenlos und rüde mit der Deprivation des Menschen als Ware (hier vor allem Frauen) im Kapitalismus konfrontiert. Natürlich wird hier keine Analogie behauptet, sondern ein Schockeffekt provoziert, der jedoch auf Max Horkheimers berühmter Erkenntnis zu basieren scheint: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“.

Die überwiegend rauhe, ungehobelte und sperrige Ästhetik der durchaus heterogenen NO!art-Bewegung, die Ablehnung und Widerwillen evoziert, hat es uns angetan. Wir stellen sie in zwei Ausstellungen vor: „NO!art“ und „Boris Lurie und NO!art“. Da es sich bei NO!art keineswegs um eine festumrissene Künstlergruppe mit Statut handelte, sondern um eine „lockere“ Assoziierung von Künstlern und Künstlerinnen mittels gemeinsamer Ausstellungen, fiel die detektivische Spurensuche, das Lokalisieren von Werken besonders schwer. Viele der Beteiligten sind mittlerweile verstorben, ihr Werk „verschollen“ oder nicht auffindbar, Erben oder Nachkommen nicht zu ermitteln. Manche damals involvierte Künstler und Künstlerinnen haben sich später von dieser Phase ihrer künstlerischen Laufbahn distanziert, deshalb konnten wir nicht auf ihre Unterstützung bzw. Leihgaben zählen. Von den drei wichtigsten Personen, die die NO!art prägten, Stanley Fisher, Sam Goodman und Boris Lurie, sind die ersten beiden verstorben. Aufgrund dieser Tatsache ist allein das Werk von Boris Lurie nahezu lückenlos vorhanden. Um wegen dieser unterschiedlichen Materiallage nicht eine falsche Gewichtung vorzunehmen, aber dennoch das spannende Werk von Boris Lurie in seiner Entwicklung präsentieren zu können, haben wir uns für zwei getrennte Ausstellungen entschlossen. Die Ergebnisse der Recherchen der Arbeitsgruppe „NO!art“ in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst sind in diesen Katalog eingegangen. Dabei haben wir, trotz unserer Bemühungen, häufig weder die genauen Bildtitel noch das Entstehungsjahr exakt eruieren können. Wir haben versucht, eine Doppelung mit dem 1988 erschienen Buch NO!art (herausgegeben von Boris Lurie & Seymour Krim bei der Edition Hundertmark, Köln 1988) möglichst zu vermeiden. Allen Interessierten sei dieses Buch dringend empfohlen.

Besonders bedanken möchten wir uns bei Gertrude Stein, die uns als frühe Förderin und Galeristin von NO!art nicht nur mit privaten Leihgaben unterstützte, sondern uns in mehreren Gesprächen viele wichtige Informationen gab und schwierige Vermittlungsarbeit bei der Realisierung leistete. Ohne sie wäre das Projekt gefährdet gewesen und womöglich gescheitert.

An dieser Stelle sei auch Dietmar Kirves gedankt, der uns auf NO!art aufmerksam machte, sich selbst immer als „Spiritus rector“ sah, die Arbeitsgruppe in der NGBK mitbegründete, jedoch aufgrund von Disharmonien ausschied.

Publiziert in: NO!, Katalog, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin 1995

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MATTHIAS REICHELT, geboren 1955 in Leipzig, studierte von 1975 bis 1983 Amerikanistik und Germanistik und schloss mit dem Grad M.A. ab. Seit 1983 ist er als Ausstellungsmacher, Publizist und Kritiker tätig. Von 1986 bis 2004 hatte er eine Teilzeitstelle bei der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit inne. Seit 2005 schreibt er u. a. Artikel für das Kunstforum International, das Berliner Stadtmagazin Zitty, für die liberale Tageszeitung Der Tagesspiegel und die linke junge Welt sowie für die Wochenzeitung Jüdische Allgemeine. 2015 wurde er zusammen mit Lith Bahlmann mit dem Hans-und-Lea-Grundig-Preis ausgezeichnet. mehr

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