Das überregionale deutsche Feuilleton hat sich mit Ausnahme der Frankfurter Rundschau und der linken Jungen Welt mal wieder in Ignoranz geübt. In vielen langen Artikeln wird das Kulturprogramm der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt aus jeder Perspektive beleuchtet, das Pro und Contra des Goethe-Haus-Duplikats abgewogen, dabei gerät vor lauter Weimar Buchenwald aus dem Blick. Zur selben Zeit kommt die unendliche Geschichte des Holocaust-Denkmals, mit dessen Hilfe sich die Berliner Republik selbstgerecht als geläutert feiern und klammheimlich auf die Seite der Opfer schlagen möchte, zu einem bizarren Höhepunkt. Obgleich der Vorschlag, die Mahnung „Du sollst nicht morden“ in althebräischen(!) Schriftzügen als zentrales Denkmal für die ermordeten Europäischen Juden in Berlin künstlerisch gestalten zu lassen eher eine Autorenschaft des Satiremagazins Titanic vermuten lässt, ist er doch ernst gemeint und stammt von Richard Schröder (SPD). Zeitgleich wird die aktive Beteiligung deutscher Soldaten am Krieg um den Kosovo in Jugoslawien von der rot/grünen Regierung als historisches Datum gefeiert.
Angesichts der hier kurz skizzierten Debatten und der politischen Atmosphäre mag es nicht verwundern, dass die ehemaligen Konzentrationslager und heutigen Gedenkstätten mit ihrer von Mittelknappheit bedrohten mühsamen Wissensvermittlung und Erinnerungsarbeit in dieser Berliner Republik kaum noch eine Rolle spielen.
Die Gedenkstätte Buchenwald hat sich unter Leitung von Dr. Volkhard Knigge und der Kuratorin Dr. Sonja Staar einen besonderen Beitrag für die europäische Kulturhauptstadt Weimar 1999 einfallen lassen. Im Kellergeschoss der ehemaligen Desinfektion, also unterhalb der ständigen Sammlung mit Werken ehemaliger Häftlinge und zeitgenössischer internationaler Künstler, wurde bis zum 10. Mai 1999 eine Ausstellung mit dem New Yorker Künstler Boris Lurie gezeigt.
Lange bevor das Thema Auschwitz für die Kunst domestiziert war, also noch lange vor der Betroffenheitsseligkeit des „There is no business like Shoahbusiness“ (Eike Geisel), hat sich Boris Lurie bereits in den fünfziger Jahren in aggressiver Weise daran abgearbeitet und seitdem diesen Topos nicht mehr losgelassen. Die biographische Nähe zu diesem Thema haben ihm die deutschen Faschisten nebst lettischen Kollaborateuren verschafft.
1924 in einer jüdischen Familie in Leningrad geboren und in Riga aufgewachsen, wurde er von den Deutschen ins Rigaer Ghetto gebracht. Während seine Großmutter, Mutter und eine Schwester ermordet wurden, haben Boris Lurie und sein Vater eine Odyssee durch mehrere Konzentrationslager überlebt, da sie noch als Arbeitskräfte „verwertbar“ waren.
Unter den Nummern 95966 und 95967 sind Boris und Ilja Lurie auf einer Transportliste Buchenwald-Magdeburg aufgeführt. Von 1944 bis zur Befreiung mussten sie in einem Außenkommando Buchenwalds, bei der Poltewerke AG, einem Rüstungsbetrieb in Magdeburg, arbeiten.
1946 wanderten beide in die USA aus. In New York begann Boris Lurie eine Ausbildung bei Reginald Marsh in der Art Students League, wo er viele gleichgesinnte Künstlerinnen und Künstler und spätere Verfechter der von Lurie Anfang der 60er Jahre begründeten NO!art kennenlernen sollte.
Anfänglich, Ende der vierziger Jahre, verarbeitete Lurie seine KZ-Erfahrungen im Stil klassischer figurativer Malerei. In diesen frühen Gemälden schildert er in geschlossenen Kompositionen Szenen aus dem KZ. Auf dem Bild Entrance von 1946/47 zeigt Lurie den von zwei Häftlingen gesäumten Eingang zum Todestrakt. Die ausgemergelten und traurigen Gestalten tragen statt Helmen Eimer auf ihren Häuptern. Eine überlieferte Strafaktion der KZ-Verwalter, die damit die Häftlinge noch angesichts ihrer bevorstehenden Vernichtung der Lächerlichkeit preisgeben wollten. Das KZ als Sujet taucht bei Lurie später nur noch in vorgefundenem Material (Fotografie, Schrift) auf, während er die Insignie des Systems und der Bewegung, das Hakenkreuz, immer wieder metaphorisch einsetzt.
Der traumatische Verlust von Großmutter, Mutter und einer Schwester, das erzwungene Ende seinerJugend und die Unmöglichkeit von Liebe und Sexualität unter KZ-Bedingungen führten zu einem größeren Werkzyklus der „Dismembered Women“ (zerstückelte, zergliederte Frauen). Auf diesen flächig gemalten Bildern sind deformierte und mit fratzenhaft verzerrten Gesichtern versehene Körper sichtbar, an manchen Stellen gar nur lose Körperteile. Neben seinen traditionellen Anfängen waren auch Beispiele dieser Bilder von Lurie in der Gedenkstätte Buchenwald zu sehen. Rückblickend ist erkennbar, dass Boris Lurie immer um das Einfangen der komplexen und widersprüchlichen Realität bemüht war. Insofern scheint es nur folgerichtig, dass die grossen (sowohl qualitativ als auch im Ausmaß) Werke seines Œuvres in eine Kombination verschiedener Techniken und Medien mündeten. Auffällig ist die Verschmelzung von drei Techniken, derer er sich bis heute bedient: Malerei, Collage und Assemblage.
Der moralische Impetus, Luries Empörung über den Zustand der Welt sowie die Parteilichkeit seiner Kunst wirken ungewohnt in einer Zeit der „Coolness“ in der gegenwärtigen Kunst mit ihren kalkulierten Effekten und ihrer technischen Perfektion. Bei Lurie entsprechen die Bildkompositionen eher den Gedankensplittern spontaner Assoziation, schroff und ohne gleitende Übergänge. Die Oberfläche seiner großen, vorwiegend aus den frühen sechziger Jahren stammenden Leinwände wirkt rau, ungehobelt und dreckig und erinnert nicht selten an die Trash-Ästhetik der Punk-Ära, der er damit 10 Jahre voraus war.
In seinen Bild-Collagen-Assemblagen versucht Boris Lurie sowohl Text als auch Subtext, These, Antithese, Bewegung und Gegenbewegung in ihrer Simultanität darzustellen. Das bedeutet natürlich eine totale Absage an die Vorstellung einer linearen Erzählbarkeit von Geschichte, mit der in der Usamerikanischen Literatur Autoren wie z.B. William Gaddis und Thomas Pynchon brachen.
Die Grenzen der Medien (Foto, Text und Malerei) werden andererseits gerade durch ihre schonungslose Konfrontation miteinander durch Lurie sichtbar gemacht. Alles bedarf des Kommentars. Die individuelle Malerei der offiziellen Printmedien und umgekehrt.
Die Zerstörung des Menschen, seiner Integrität und Würde und hier besonders der Frau wurde durch Eingriffe in vorgefundenes Material zum Ausdruck gebracht.
1958 begann er damit, die Erzeugnisse der Printmedien, Zeitungsausschnitte, Kosmetikreklamen, Wahlplakate und Pin-ups (von denen er sich als Mann natürlich auch angezogen fühlte und dies in Texten und Interviews auch zum Ausdruck brachte) zu verarbeiten, ohne aufzuhören, den Holocaust zu thematisieren. In dieser Phase näherte sich Boris Lurie seiner antikapitalistischen Position der späteren Jahre an. Indem er das scheinbar zufällige Nebeneinander von Reportagen über den größten industriellen Massenmord und Produktwerbung für Kosmetik und Mode in den Zeitschriften aufgriff und in seinen Collagen zu großen Tableaus verschmelzen ließ, trieb er das Spiel der Medien- und Warenwelt zynisch und aggressiv auf die Spitze. Diese, den Blick anziehenden, aber auch wieder abstoßenden Bilder vermögen auch heute noch zu verletzen. Kaum jemand hat sich eine so ungeheuer radikale und provokante Bildästhetik zu eigen gemacht.
Die Railroad-Collage von 1963, die jetzt zur ständigen Kunstsammlung der Gedenkstätte gehört, zeigt ein Pin-up mitten in einem Leichenberg aus Buchenwald. In Lolita von 1962 hat Lurie die laszive Lolita aus Stanley Kubricks Nabokov-Verfilmung zusammen mit einem Bild von KZ-Toten auf einer gelb bemalten Leinwand montiert. Diese Bilder sind nur vor dem Hintergrund einer alles durchdringenden Warenwelt und der radikalen Auffassung von Komplexität und Simultanität der Welt lesbar. Die Grenzen zwischen Werbung und Information, zwischen Spiel und Ernst, Gut und Böse sind längst eingerissen. Alles wird zu einer Melange. Die Qualität von Boris Luries Bildern liegt in ihren schmutzigen, rohen und verkleisterten Oberflächen, die nichts verschönern, sondern die Brüche sichtbar machen, die heute z.B. im Fernsehen durch smarte Moderatoren angenehm verdeckt werden. Die Überleitung ist schon Infotainment. Boris Luries Kunst stellt damit natürlich auch die traditionelle Mahnmals-Kunst in Frage, denn sie funktioniert ja nur gegenteilig nämlich mittels einer irrealen Fokussierung auf einen Aspekt (Person, Opfergruppe etc.) der Geschichte.
Die Weigerung, oder das Unvermögen zur Dechiffrierung solcher von Lurie methodisch intendierten Attacken auf die Netzhaut führten im Besucherbuch der Gedenkstätten-Ausstellung zum Vorwurf, Lurie verhöhne die Opfer. Allein sein eigener Status als Opfer schützen ihn vor stärkeren Angriffen.
Natürlich hat sich Lurie mit solchen Bildern auch in der Kunstwelt keine Freunde gemacht. Wer wollte schon die verschiedenen Realitätssphären (Text und Subtext) zu einem Bild verdichtet sehen. Bevorzugt wurden die undeutlichen, sich ausschließlich in Form, Farbe und Material ergehenden Werke des Abstrakten Expressionismus, der ja nicht ganz zufällig während des Kalten Kriegs gegenüber der figurativen Malerei den Siegeszug in den westlichen Ländern angetreten hatte (vgl. Serge Guilbaut, How New York Stole the Idea of Modern Art, Chicago 1983).
Mit gleicher Skepsis wie gegenüber den Abstrakten Expressionisten und letztendlich mit oppositioneller Haltung begegnete Boris Lurie der in den sechziger Jahren aufkommenden Pop Art, in deren Stilisierung der Warenästhetik er nur eine Affirmation des „Systems“ sah.
Zusammen mit Stanley Fisher und Sam Goodman organisierte er unter dem Begriff NO!art Anfang der sechziger Jahre Gruppenausstellungen in der March Gallery (March von Marschieren im Sinne von Kampf in Formation gegen die Kunstwelt, die falsche Kunst, die Verdummung und die Repression) in der Lower East Side New Yorks, an denen bis zu 20 Künstlerinnen und Künstler beteiligt waren u.a. Erro, Alan Kaprow, Yayoi Kusama, Jean-Jacques Lebel, Lil Picard usw.
Von den Museen und deren Kuratoren (damals noch durchweg männlich) wurde NO!art von Ausstellungen ausgeschlossen, wie Harriet Wood, die Anfang der sechziger Jahre einen Job beim MoMA in New York hatte, in ihren Erinnerungen beschreibt. (vgl. NO!art, Katalog der NGBK, 1995, S.158)
Wolf Vostell gab seiner Sympathie für diese Bewegung mehrfach Ausdruck. In einem Brief an Boris Lurie, zu dessen grossen Ausstellung zusammen mit den anderen NO!art-Künstlerinnen und Künstlern in Berlin 1995, schrieb Vostell: „Deutschlicher gesagt, alle Maler mit „bösem“, aufklärerischem und dialektischem Bildmaterial, auch international gesehen, werden es in Deutschland immer sehr schwer haben. Wer sollte das alle sammeln? Das psychologische Erscheinungsbild der Sammler hier ist dasselbe wie in New York. Warum sollten sie ihre schönen Häuser voll hängen mit Aufklärung, Konzepten, Mahnmalen und Erinnerungen an die desaströse Geschichte im XX. Jahrhundert?“ (in: NO!art, NGBK, Berlin 1995, S. 163)
Die Arbeit mit vorgefundenem Material, die Technik der Decollage und die Inhalte verband NO!art mit den politischen Künstlern des Fluxus.
Mit Müll, Graffiti, Gerümpel, Mieder, Gips, Beton, Haaren und Farbe wurden in verschiedenen thematischen Ausstellungen Inszenierungen geschaffen, mit der die ablehnende Haltung gegenüber der herrschenden Politik und Ästhetik zum Ausdruck gebracht wurde. NO! zur Kunst, die der Dekoration eines Systems dient, das Massenverelendung und -vernichtung nicht nur toleriert, sondern unter dem Prinzip der Profitmaximierung seines militärisch-industriellen Komplexes aktiv betreibt.
Korea, Algerien, Vietnam und viele andere Kriege im Zeichen des Neokolonialismus wurden von Lurie in übermalten Collagen verarbeitet. NO! zum bourgeoisen, den Kapitalgesetzen unterworfenen Kunstmarkt. Boris Lurie hat sich diese Ablehnung bis heute bewahrt und weigert sich seine Arbeiten zu verkaufen.
Das Ende der March Gallery wurde mit der NO Sculpture Show, die später auch Shit Show tituliert wurde, begangen. In den Kellerräumen der Galerie stellten Sam Goodman und Boris Lurie unterschiedlich große und farbige Haufen Scheiße aus Gips und Beton aus und gaben damit ihrer Ablehnung von zeitgenössischer Politik und Kunstbetrieb einen sinnlich passenden Ausdruck. Dies war auch eine radikale Kritik an der Politik der Museen, unpolitische Kunst zu fördern und explizit politische Kunst auszugrenzen und damit sowohl die Realität als auch den überall auf der Welt geführten Kampf um Emanzipation unterdrückter Völker zu ignorieren. NO!art war auch an vielen öffentlichen Happenings und straßentheaterähnlichen Aktionen gegen den Vietnamkrieg beteiligt. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre setzten Künstlergruppen wie die Guerilla Art Action Group um Jon Hendricks und Jean Toche dieses Engagement mit anderen Mitteln fort.
Boris Luries Bilder strahlen weder Larmoyanz aus, noch geraten sie jemals in die Nähe des peinlichen Betroffenheitskitsches. Ein wie auch immer gearteter Pathos ist diesen Bildern fremd, sie polarisieren und nötigen den Betrachter zu einer entschiedenen Position.
Hass und Aggression sind in den Bildern auch heute noch spürbar. Hier dominiert keineswegs die kühle intellektuelle Analyse, sondern die anarchische Direktheit von DADA und Situationisten.
Publiziert in: Kunstforum, Band 145, Köln, Mai/Juni 1999
MATTHIAS REICHELT, geboren 1955 in Leipzig, studierte von 1975 bis 1983 Amerikanistik und Germanistik und schloss mit dem Grad M.A. ab. Seit 1983 ist er als Ausstellungsmacher, Publizist und Kritiker tätig. Von 1986 bis 2004 hatte er eine Teilzeitstelle bei der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit inne. Seit 2005 schreibt er u. a. Artikel für das Kunstforum International, das Berliner Stadtmagazin Zitty, für die liberale Tageszeitung Der Tagesspiegel und die linke junge Welt sowie für die Wochenzeitung Jüdische Allgemeine. 2015 wurde er zusammen mit Lith Bahlmann mit dem Hans-und-Lea-Grundig-Preis ausgezeichnet. ►mehr