Du schwarz gekleideter Eremit der 66. Straße.
Du Nighthawk, machst die Nacht zum Tag und suchst den Schlaf zwischen Stapeln von Zeitungen, Holocaust-Literatur und Börsendepeschen, während das oberflächenpolierte Manhattan Giulianis seinem Tagesgeschäft nachgeht.
Deine dunkle Mietwohnung, knapp unter dem Straßenlevel gelegen, aber noch kein Souterrain, verlässt Du regelmäßig nur, um Dir die New York Times, die alte Tante, zu holen, oder ab und an in Dein Studio in der - jetzt von den Yuppies gehypten - Lower East Side zu fahren.
Manchmal, wenn Du Lust auf den altmeisterlichen Kanon der Bildenden Kunst hast, besuchst Du - streng dem Gesetz der Sparsamkeit verpflichtet -, für einen Cent, dem Minimum des obligatorischen pay-what-you-can, das Metropolitan Museum.
Die Wohnung ist Dir zur Festung geworden, manche sagen sogar zum selbst erbauten KaZet. Gleich einem Labyrinth müssen sich die ausgesuchten Besucher den Weg zu Deinem verschlissenen Sofa bahnen. Schnell noch ein Stapel zur Seite geräumt, um einen Sitzplatz zu schaffen vis-a-vis Deines kleinen historischen s/w-Fernsehers.
Obwohl Du Dir ein großbürgerliches Dasein leisten könntest, führst Du ein völlig luxusfreies Leben.
In Deinem wohlgeordneten Chaos, dessen System alleine Du durchschaust, empfängst du uns, Vertreter der Außenwelt, mit außerordentlicher Höflichkeit. Damenbesuch begegnest Du mit altmeisterlichem Charme, der gewöhnlich in großbürgerlichem Ambiente anzutreffen ist und in Deiner Welt wohltuend deplatziert erscheint.
Via Zeitung, Telefon und Fax hältst Du Kontakt zur Welt.
Deine kritischen Anmerkungen, Erläuterungen, Reflexionen und eben Gedichte verfasst Du im Stehen auf Deiner alten Schreibmaschine. Umgeben bist Du dabei von hoffnungslos überfüllten Schreibtischen.
Mit schier unstillbarem Interesse verschlingst Du die Reminiszenzen linker Publizistik.
Entgegen dem zeitgenössischem Trend in der Kunst, sich mittels Eventmarketing und Public Relations in Szene zu setzen, verharrst Du in ablehnend kritischer Distanz zum Kunstmarkt, den Du nur als eine Spielwiese für Steuerabschreibungen und Überschüsse aus harten Dollargeschäften begreifst. Zuwider ist Dir die Konkurrenz unter Künstlern um die besseren Positionen.
Ungebrochen ist Dein Bemühen, hinter die Fassade zu schauen, um die wirklichen Verhältnisse zu erkennen.
Deine Tragik ist, dass auch die Antihaltung und Opposition dank repressiver Toleranz und Postmoderne vermarktbar ist. Der puritanische Aufschrei in den USA gegen angeblich obszöne Kunst ist nur noch eine lächerliche Geste gegen die tabulose Verwertungswut eines völlig entfesselten Kapitalismus. Du bist gefangen in den Widersprüchen Deines Lebens.
Die deutschen Nazis und die lettischen Kollaborateure, deren mörderischer Antisemitismus dem deutschen in nichts nachstand, wollten Dir als russischen Juden das Leben austreiben, zuletzt mit Zwangsarbeit in einem Außenlager Buchenwalds.
Sie haben nicht gesiegt.
Du hast sie überlebt. Dafür suchen sie Dich in Deinen Träumen heim.
Die Deutschen sind Dir trotz dieser Erfahrungen sehr nahe.
Von Kollektivschuld willst Du nichts wissen. Das Wegschauen, die Feigheit, das Funktionieren der großen Mehrheit im Nazi-Räderwerk entschuldigst Du mit der vorsichtigen Überlegung, ob Du an ihrer Stelle mutiger gewesen wärest.
Welch großmütige Geste, die ein Volk von Schuld freispricht.
Deinen deutschen Freunden, Nachkommen der Tätergeneration, schickst Du Care-Pakete mit Vitaminen zur Lebenserhaltung- und Verlängerung. Du distanzierst Dich von der „Holocaust-Kunst". Mit Recht lehnst Du dieses Label ab. Dennoch enthalten Deine Werke mannigfaltige Verweise auf die Geschichte des grössten organisierten und industriell durchgeführten Genozids. Wie sollte es auch anders sein, denn Kunst ist immer auch ein Stück Autobiographie.
Du machst Kunst ohne Markt,
willst von den Kunstpalästen als Tempel der bourgeoisen L'art pour l'art nichts wissen, wartest aber dennoch auf eine positive Rezeption. Unermüdlich webst Du an der Legende von NO!art, um sie in die Kunstgeschichte einzuschreiben.
Gegen die Kunst arbeiten, aber mit den Mitteln der Kunst: Dies ist vielleicht der grösste Widerspruch Deines Lebens, der Dir eine ungeheure Produktivität abverlangt.
Verbunden fühlst Du Dich Europa, hast Dich aber in der Neuen Welt niedergelassen, genötigt zum Exil.
Letzter Kommunist inmitten des Börsen- und Großstadtmolochs Manhattan.
Hier, wo die Fäden von internationalem Kapital, IWF und imperialer Unterjochung zusammenlaufen, schwenkst Du das Banner der Revolution. Dies hindert Dich aber nicht daran, das Spiel um Aktien und Optionsscheine mitzuspielen.
Du kluger, liebenswerter Kämpfer ohne Partei und Organisation. Die Partei, die Dich verkraftet, müsste erst erfunden werden.
Nie vergessen werden die nächtelangen Gespräche im Green Kitchen, einem der seltenen Lokale mit internationaler, aber schlechter Küche, das jedoch den letzten Rauchern im gesundheitswahnsinnigen Manhattan Asyl bietet.
Deine Diskussionsleidenschaft ist grenzenlos! Der Besuch aus der Alten Welt weiss davon ein Lied zu singen. Wie oft fielen uns, geplagt von Sightseeing und Jetlag die Augen zu, während Du niemals müde wurdest, historische Ableitungen, Analogien und Zusammenhänge von Kunst und Politik ausführlich zu skizzieren.
Gegen die Müdigkeit ankämpfend lauschten wir Deinen Erinnerungen an Riga, das Ghetto, Buchenwald und die Befreiung.
Auf eine ausführliche Autobiographie warten wir gespannt, sie sei hiermit angeregt.
Welch Glück und Ehrung, Dich Freund nennen zu dürfen, auch wenn Du nie müde wirst, Deine Freunde mit immer neuen Aufgaben zu konfrontieren.
MATTHIAS REICHELT, geboren 1955 in Leipzig, studierte von 1975 bis 1983 Amerikanistik und Germanistik und schloss mit dem Grad M.A. ab. Seit 1983 ist er als Ausstellungsmacher, Publizist und Kritiker tätig. Von 1986 bis 2004 hatte er eine Teilzeitstelle bei der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit inne. Seit 2005 schreibt er u. a. Artikel für das Kunstforum International, das Berliner Stadtmagazin Zitty, für die liberale Tageszeitung Der Tagesspiegel und die linke junge Welt sowie für die Wochenzeitung Jüdische Allgemeine. 2015 wurde er zusammen mit Lith Bahlmann mit dem Hans-und-Lea-Grundig-Preis ausgezeichnet. ►mehr