Die Ausstellung ist eine Hommage der seit einigen Jahren in Deutschland lebenden Israelischen Fotografin Naomi Tereza Salmon an den doppelt so alten Boris Lurie, der bald noch seiner Befreiung durch US-Truppen aus dem Außenlager Magdeburg des KZ Buchenwald nach New York emigrierte und seither dort lebt, Lurie wurde 1924 in Leningrad geboren, wuchs in Riga auf und verlor den größten Teil seiner Familie in deutschen KZs.
1959 gründete Lurie, aus Protest gegen die Pop Art, die radikale "NO!art" als künstlerische Praxis der Überlebenskunst, in der es, wie im Leben auch, nichts gibt, was nicht dazugehört. - Kein Foto, keine Erinnerung, keine kaputte Schreibmaschine, die nicht NO!art wären. Was andere aussortieren können, die nicht die Vernichtung überleben mussten, gehört hier immer dazu.
Dieses Leben als Überlebenskunst hat Naomi Tereza Salmon gefilmt, fotografiert und in klaren Formen präsentiert, ohne darin aufzuräumen. Sie lernte Lurie 1998 wahrend der Ausstellung seiner. Bilder, Objekte und Gedichte in der Gedenkstätte Buchenwald kennen und besuchte ihn dann mehrmals in New York. Daraus entstand diese Ausstellung, die zuerst ebenfalls in Buchenwald zu sehen war und jetzt vom Haus am Kleistpark übernommen wurde, das seine einzigartige Tradition, die NS-Geschichte künstlerisch zu thematisieren, damit in bester Form fortsetzt. Einzigartig daran ist, dass hier, verantwortet von der langjährigen Leiterin Katharina Kaiser, stets ein Weg gefunden wurde, zwischen politischer Bildung, Gedenkstättenkultur und Betroffenheitskulten, die Dinge mit Bedacht als Elemente unserer Freiheit zu verstehen. Deswegen ist es Kunst, und nicht Politik oder Pädagogik oder Religion, die ja auch viel Gutes versprechen.
Dieser Kunstgeist durchzieht auch Naomi Tereza Salmons Ausstellung, die ein Dialog beider über Luries vollgeladenes Leben ist. Salmon ist es gelungen, das Ganze fotografisch-filmerisch und räumlich zu gliedern in Poesie, Bilder und Alltagsleben, ohne zu sortieren zwischen Wichtigem und Unwichtigem. Denn Boris Lurie kann nicht trennen, nichts wegwerfen und keine Auswahl treffen. Rastlos und neugierig interessiert er sich für alles zu seinem Lebensthema, deswegen ist nichts vorbei, hängt alles zusammen und wird alles gezeigt: Stalin und Berlusconi, Vietnamkrieg und Intifada, Familienfotos, Pin-ups und Vernichtungsbilder.
Das Gebot nichts auszuwählen und wegzulassen, verbindet diese Ausstellung mit früheren, formal ganz anderen Arbeiten Naomi Tereza Salmons. Bekannt wurde sie vor einigen Jahren mit Foto-Dokumentationen sogenannter Asservate aus den KZs, also den geborgenen Habseligkeiten der Häftlinge, wie Brillen, Kämmen und Löffeln, in dem anrührend-schrecklichen Zustand nach jahrelangem Gebrauch, Zerstörung und Reparaturen. Der Anfang war 1989 ein Auftrag des Nationalmuseums Yad Vashem, die dort gesammelten Objekte für das Archiv fotografisch zu dokumentieren. Diese Arbeit wurde auch in Deutschland bekannt und bei einem Besuch in der Gedenkstätte Buchenwald wurde ihr gestattet, auch dort alle Dinge im Magazin zu fotografieren. Diese Dokumentation enthält nur Fotos ohne jede Information, da bei vielen Dingen nicht zu klären war, ob sie Opfern oder Tätern gehörten. Die DDR-Behörden hatten alles zusammengeworfen und große Teile des KZ-Geländes eingeebnet.
Nichts weglassen und nicht auswählen etwa zwischen schönen und hässlichen Dingen, ist das gemeinsame Prinzip der Dokumentation und der NO!art. Allerdings hat die dokumentarische Präsentation einzelner, armseliger Dinge aus den KZs heute nicht nur, so Salmon, in Israel, sondern auch in Deutsehland, vor allem für jüngere Leute, ihre Titanische Punktion eingebüßt zugunsten eines eher archäologischem Blicks auf sie.
Die Ausstellung zu Boris Lurie ist dagegen selbstredend gegenwärtig, was zunächst an der ästhetischen Dominanz und Sprache der Gedichte liegt, die in Pseudo-Frakturschrift an die Wände geschrieben und über Kopfhörer zu hören sind: "Meine Sympathie ist mit der Maus, doch ich füttere die Katze".
Oder: "Die Heldentaten, die ich nicht gemacht, die Greueltaten, die ich leider nicht vollbracht ... Toi-toi! der Stunden die sich um uns vernarrt. Aufwiederleben: Strudel von den Alpenjägern.“ Beim Hören klingt der Rhythmus der "baltendeutschen Sprache" mit, die Lurie "nach dein Krieg vergessen wollte, was auch beinah gelungen wäre“, die ihm aber "im Blut steckt".
Ähnlich attraktiv sind die sieben großen, detailscharfen Fotografien, die Salmon von Luries Wohnung gemacht hat. Man beginnt sofort dieses Tohuwabohu wie einen Trödelmarkt mit Blicken zu durchstöbern und findet die disparatesten Sachen eng beieinander. Obszöne und gewaltsame Details müssen nicht erst distanzierend-erklärend nahegebracht werden. Sex and Crime, KZ und Pin-up-Fotos sind hier illustriertenmäßig vereint, Auch der Titel der Ausstellung wurde so gefunden. Die Kamera erfasste einen Zettel, auf den untereinander drei Worte getippt waren: "optimislic disease facility“. Man sollte sie nicht wie einen Satz lesen, sondern als Ausdruck unterschiedlicher Befindlichkeiten.
Das innere Zentrum der Ausstellung ist jedoch der einstündige Film, den Naomi Tereza Salmon mit Boris Lurie in seinem Ambiente gedreht hat. Daraus einige Beispiele: Zu Beginn sagt er, es sei einfach normal für ihn, "erst halbtot und dann König zu sein". Lurie kam praktisch mittellos aus einer zum Displaced-Persons-Lager umfunktionierten SS-Unterkunft nach New York. Als er nämlich einen geschnappten Naizi mit seiner den ermordeten jüdischen Händlern geraubten Diamantenbeute bewachen musste, nutzte er die ihm diskret gebotene Gelegenheit nicht, die Steine an sich zu bringen. Das taten später die US-Beamten, denen das Raubgut ordnungsgemäß übergeben worden war. Auf die Frage, warum er Bilder seines Vaters und Stalins nebeneinander platziere, sagt er: "Ohne Stalin gäbe es keine Juden mehr auf der Welt, weil er gegen Deutschland den Krieg gewonnen hat." Die Leute auf den Fotos aus dem Getto, darunter viele Verwandte Luries, seien alle tot, aber er habe diese Fotos durch Getto und KZs gerettet. Und über die provozierenden Pin-up-Collagen neben Vernichtungsbildern sagt er, sie seien wie die Sexbilder in den "Spinden der Arbeitssklaven, um e einen Funken von Liebe und Wohlfühlen in ihrem langweiligen Tagessein zu erhalten.“ Im Getto waren Pin-ups verboten, jetzt nicht mehr. Auch das ist Leben nach dem Überleben.
Nicht im Film, aber auf der von Naomi Tereza Salmon erarbeiteten CD-rom seiner Gemälde und Objekt-Collagen ist die berüchtigte "Railroad Collage" von 1963 zu sehen: das Foto eines offenen, mit nackten KZ-Leichen überfüllten Güterwagens, beklebt mit dem obszönen Bild der Arschofferte einer Hure. Lurie nennt die Montage auch "flat-car assemblage 1945 by Adolf Hitler". Es sei bemerkt, dass Boris Luries NO!art-Sachen Überlebenskunst nach dem Überleben sind, nicht etwa sog. Lagerkunst. Jetzt ist alles möglich, was ästhetisch zu fassen ist. Und das ist hier die Kunst - nämlich mit so einem Leben nicht aus der Fassung zu geraten, sondern immer die der Sache angemessene Form zu finden, wie z.B. bei Luries Besuch in Riga 1975.
Der sei für ihn "noch schlimmer gewesen als Buchenwald". Die Dame vom lettisch-sowjetischen Künstlerverband habe ihn in guter Absicht zum Denkmal mit den Massengräbern gebracht, wo seine Angehörigen verscharrt worden seien. Da sei er "durchgedreht: so kleine Grabfelder für eine ganze Stadt" - und begann, die Gräber abschreitend zu vermessen, "um den Schock in eine sozusagen wissenschaftliche Handlung zu verwandeln". Lurie erzählt solche Geschichten, während Salmons Kamera langsam die Räume abtastet: Bücher- und Papierstapel, Plakate, Wasser- und Elektroleitungen, Farbdosen, Geschirr, die Treppe in den Keller mit dem übervollen Bilderlager. Für Boris Lurie ist in dieser schäbigen Wohn- und Arbeitshöhle ohne Tageslicht "alles sehr schön", weil die Geschichten und sein Leben es schön machen. Das Waschbecken ist versifft, aber die Geschichte, wie er sich behilft, ist sehr schön. Seine Sympathie gilt denen, die sich wehren und behelfen. Boris Luries Leben, seine Geschichten und seine Kunst so präsent gemacht zu haben, ist wiederum Naomi Tereza Salmons Kunst.
Publiziert in: KUNSTFORUM, Juli-August 2004, Band 171, S. 310 — 312.