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CLAYTON PATTERSON:
Ja! . . . aber ist es Kunst?

Wenn ich an NO!art denke, denke ich an Boris Lurie. Bei NO!art denke ich an Pop-art, was für mich Warhol bedeutet. Boris erzählte mir, NO!art habe als Gruppe in den späten fünfziger Jahren begonnen und 1965 geendet, wohingegen Pop-art 1960-61 entstand und 1963 in die Kunst- und Medienwelt wie eine Bombe einschlug. Beide Künstler benutzten Gegenstände aus der Warenwelt; Boris: Ketten, Schilder, Macheten; Warhol: Elektrische Stühle, Brillo-Schachteln, Coca Cola. Warhol unterstrich die Bedeutung des Gegenstands, er stahl sogar das Campbell-Suppen-Kunstwerk aus dem Ladenregal sowie vom Firmendesigner, der namenlos bleiben wird. Boris benutzte die Dinge, um den Schmerz und den Horror auszudrücken, ebenso wie das Trauma, ein jüdischer Überlebender des Konzentrationslagers zu sein. Seine ästhetische Richtung war stärker an der europäischen Tradition orientiert und diente dem Protest gegen die Missstände und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft. Es war ein dreckiger, intellektueller Protest der Ästhetik, nicht der saubere, lustige französische Obere-Mittelschicht-Dada. Pop-art war zuerst frivol; nachdem Warhol jedoch von einer wahnsinnigen, männerhassenden Frau, Valerie Solanas (einziges Mitglied von S.C.U.M., Society Cutting up Men/Gesellschaft zur Vernichtung der Männer), angeschossen wurde, haftete der Bewegung ein gefahrenumwitterter Ruf an.

Warhols Kunst war vollkommen amerikanisch und gegenwartsgeil: Was ist los? Was läuft? Was ist das nächste große Ding? Die Konzentration auf Schmerz und Leid bei NO!art hatte einen fast christlichen Touch.

Warhol war ein frommer Katholik, wurde von amerikanischen Juden unterstützt, die Kunst schätzten und kauften. NO!art dagegen war viel zu persönlich. In den sechziger Jahren passten sich die Juden an das Image der amerikanischen Mittelschicht im Fernsehen an ("Vater ist der Beste", "Rin Tin Tin", "Leave it to Beaver"). In den USA gab es kein wirkliches Interesse am Thema Holocaust, und auf keinen Fall wurde dafür Geld ausgegeben, wie zum Beispiel heute, wo es zu einem lukrativen Geschäft geworden ist.

Beide Gruppen, NO!art und Pop-art, zogen ein großes Publikum an. Pop-art war glamourös, inspiriert von Hollywood und Camelot und trendorientiert, während NO!art nicht modisch erscheinen wollte; das Aussehen war "arm", "billig", "der Arbeiterklasse entsprechend", "einfach". Aber beide waren elitär. Welche Arbeiterfamilie wäre in den sechziger Jahren in eine ‚Shit' Show gegangen? Auf den ersten Blick schien die Shit Show Teil der neuen nationalen Attraktion des obsessiven Narzissmus zu sein. Scheiße kreieren, Kunst aus deinem eigenen Gedärm, öffentlich ausgestellt. Alles meins. Wie auch immer, diese Kunst, das Objekt, sollte als Abstraktion von Farbe, Textur, Oberfläche und NO!-Geruch gesehen werden und war Ausdruck des Protestes gegen den Abstrakten Expressionismus, der sich nur mit den Problemen der Malerei selber befasste. Keine Gegenständlichkeit! Scheiße und der Holocaust waren immer noch tabuisierte Themen.

Pop war traditioneller in der Technik und materialistischer ausgerichtet. Warhols Partygemeinde ebnete den Weg für elitäre Clubs wie "Studio 54" und all seine Ableger; nur die "richtigen" Leute wurden zugelassen. Boris und Warhol lebten beide in derselben Straße Manhattans, in der konservativen, snobistischen Upper East Side. Beide tobten sich hauptsächlich Downtown aus. Keiner von beiden nahm Drogen zur Inspiration; doch Warhol, genauso wie sein literarisches Gegenstück, die Beats, wurde zum Symbol einer glamourösen, dekadenten Welt der Drogensucht: Rattenfänger einer "Neuen Welt"-Unordnung. NO!art und Pop-art führten den Gegenstand wieder in die Kunst ein, bei NO!art jedoch wurde das Wesentliche, der Charakter des Objekts, gelöscht. Zwischenzeitlich fand in Amerika, außerhalb der richtigen Kunstwelt, die wirkliche Kunst-Revolution der sechziger Jahre statt. Comic-Künstler wie Robert Williams, Robert Crumb und das Big-Daddy-Roth-Phänomen beeinflussten die gesamte amerikanische Kultur, insbesondere die kreative Jugend: die Künstler von morgen. Die wirkliche Geschichte: Pollock zum Beispiel, der in den vierziger Jahren auf dem Lande im Bundesstaat Kansas groß geworden war, hatte nur einen sehr geringen Bezug zur "höheren" Kultur, die er später repräsentierte und verbreitete. Gebildete europäische Kunstkenntnis mit Pollock in Verbindung zu bringen, ist vollkommen lächerlich. Die wichtigsten Erfahrungen während des Aufwachsens stecken in den Knochen. Die Underground- und Comic-Künstler bezogen eine Menge unterschiedlicher Kulturen mit ein. Der Comic, unternehmerisch ein völliges Risiko, der für Pennies angeboten wurde und zu Zehntausenden verkauft wurde. NO!art und Popart dagegen hingen ab vom Mäzenatentum und beruhten nicht auf Massenproduktion.

Die Pop-art ließ einen neuen Typus des Kunsthändlers entstehen. Kunsthändler der vorangegangenen Generation, wie Betty Parsons, waren gebildete und wohlhabende Weiße, die es genossen und romantisch fanden, arme Künstler in ihrer Umgebung zu haben, ohne sie wirklich ökonomisch zu unterstützen. Die Pop-art-Künstler hängten sich an einen skrupellosen italienischen Geschäftsmann, Leo Castelli, der den amerikanischen Unternehmergeist, kapitalistische Motivation und Mediengewandtheit, das Zeitalter des Wassermanns verkörperte, sowie genug Geld und die Möglichkeit besaß, seinen "Stall" reich und berühmt zu machen. NO!Künstler hatten nichts gegen Verkäufe, mussten jedoch mit ihrer idealistischen, nichtmaterialistischen Position ringen wie mit dem Gelübde der Armut. Beide Künstlergruppen hatten eine jugendlich trotzige Attitüde. In der Pop-art waren die "Künstliche Frau", Filmstars, Transvestiten und Schwule in Mode, nicht gerade eine Lehranstalt für Frauen. NO!Künstler hatten eine Macho-Haltung drauf, immer bereit, stellten aggressive Fragen, verkehrten in Bars und auf Parties, waren nicht auf Drogen fixiert. Dieser Verein war offen heterosexuell: 40 % der Bewegung bestand aus Frauen.

Pop-art erhob Alltagsbilder und -ikonen zum Gegenstand der "hohen Kunst". NO!art nahm die "hohe Kunst" und reduzierte sie zu Scheiße. Beide Gruppen hatten populäre Schreiber hinter sich. NO!art hatte die New York Times, Tom Wolfe, Thomas B. Hess und Dore Ashton. Das Business jedoch stand hinter der Pop-art. Boris und Warhol nutzten beide das System in kapitalistischer Manier. Warhol brachte ein Magazin heraus, sammelte Kunst und Objekte, die im Wert stiegen. Boris edierte und schrieb als Co-Autor ein Buch, sammelte Kunst und machte Geld an der Börse. Obgleich Boris keineswegs eine so besondere Position bezüglich seiner Sammlung hat, wird sie weiterhin präsent sein, wenn sie dem "Zahn der Zeit" widerstehen sollte, sonst nicht. Boris nutzte die moderne kapitalistische Technologie, um Offset-Drucke zu fertigen, Warhol gehörte zu einer professionellen Vereinigung zur Herstellung von Künstlerdrucken.

NO!art schien anarchistisch zu sein, stellte in Wirklichkeit jedoch nur Fragen bezüglich Moral, Macht, Ästhetik und zur Kunst und dem Kunstestablishment. Darüber hinaus äußerte sie starke Gefühle, Ablehnung und Wut, über die böse, düstere und religiöse Welt, der Boris entkommen war. Der anarchistische Habitus war besonders stark während der Pop- (und Beat-) Kultur, einer Bewegung, die einer "Neuen Dekadenz" und Verwahrlosung den Weg bereitet hat und damit immer noch das öffentliche System unterminiert.

NO!art protestierte gegen Atomwaffentests und die Kunstwelt, Pop-art protestierte gegen gar nichts. Warhols Extravaganz, mit einer Kamera und einer Einstellung acht Stunden lang das Empire State Building zu filmen, war eine Ausgeburt an Langeweile und ein Lehrbeispiel für Masochismus. Langeweile im Übermaß ist sehr weit entfernt von dem Horror des (Holocaust und des) Krieges. Die düstere Weltsicht von NO!art kommt einem heute weitverbreiteten Bedürfnis sehr nahe, die Fassade aus Verharmlosung und Beschönigung einzureißen. Es scheint die Zeit gekommen zu sein, solche heiklen Fragen wieder zu stellen. Pop-art mag weniger naiv gewesen sein als man denkt, ebenso wie der Kinderreim: "Campbell soup makes me poop, down my leg and in my boot." (Campbell-Suppe lässt mich furzen, mein Bein hinunter und in meinen Stiefel.) Shit Culture. Der heutige Nihilismus, gerade im Zeitalter von AIDS, erfordert gründliches Nachdenken und die Ernsthaftigkeit von NO!art. Die Dekadenz der Pop-art und der Beats hat die Gesellschaft durchdrungen und manifestiert sich in Drogen, Chaos und Verzweiflung. Lasst uns endlich zu den Fragen von NO!art vordringen und weitermachen!

Publiziert in: NO!, Ausstellungskatalog, Berlin 1995

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CLAYTON PATTERSON, geboren 1948 in Calgary, Kanada. Kämpft gegen die Ungerechtigkeit der Regierungsformen von seiner Geburt an. Kunst- und Designstudium an verschiedenen Universitäten. Organisierte 1994 nach langer Zeit die erste NO!art Ausstellung in New York in seinem OUTLAW ART MUSEUM in der Essex Street. Arbeitet mit Elsa Rensaa als Anarcho-Artist, Dokumentarist und Tattooist in der Lower East Side zusammen mit unterschiedlichen sozialen Randgruppen. Führt das umfangreichste Videoarchiv über die Aktivitäten von Boris Lurie. — Lebt in New York. mehr

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