Rene Block, sonst meist seiner Zeit um Haupteslänge voraus, lädt diesmal zu einem Nachholkurs. „NO!art", zu deutsch: Nein-Kunst, dürfte den wenigsten ein Begriff sein. Boris Lurie ist einer ihrer Protagonisten. Block stellt seine zweite europäische Ausstellung vor (die erste war 1962 bei Arturo Schwarz in Mailand).
„NO!art" entstand — dem grünen Flugblatt zufolge, das zu dieser Ausstellung vorgelegt wird — als Rebellion gegen die „Verschleierungstendenzen" der amerikanischen Abstrakten Expressionisten. Sie entstand also aus den gleichen Wurzeln wie die Pop-Art und auch zur gleichen Zeit. Freilich: Während Pop „das amerikanische industrielle Environment feierte“, wollten die NO-Artisten es kritisieren — und die Pop-Art dazu. Prominente Galeristen und Museumsleute haben dann — sagen wir vorsichtig, weil wir uns wiederum auf besagtes Pamphlet stützten: angeblich — dafür gesorgt, dass kein NO-Artist jemals hochkam.
Es ist hier nicht der Raum, diese — in sich gewiss berechtigte — Kritik kritisch zu durchleuchten. Pop ist keineswegs so konformistisch, wie es manchem scheinen möchte; Leute wie Warhol, Rauschenberg oder Rosenquist haben zur Veränderung eines visuellen und damit letztlich auch eines politischen Bewusstseins mehr getan als viele, die sich progressiver dünken. „NO" — die nicht festumrissene Gruppe arbeitete seit 1959, Heimstatt war die Gertrude-Stein-Galerie — scheint eine Art Sekte zwischen Pop und Happening, mit einem Schuss Kritischem Realismus, der freilich nicht, wie bei den Nach-Pop-Malern in Berlin, zum Dada-Realismus tendierte, sondern eher zur art brut, zu einer direkten Auseinandersetzung mit den zeithistorischen Gegebenheiten und dem Material. Außer Lurie waren an bekannteren Namen an Ausstellungen (die wichtigste 1962, hieß „Doom Show" und wurde mit großem Erfolg als „Atomkrise“ dann auch in Rom gezeigt). Bob Logan, der französische Happeningist Jean-Jacques Lebel, Erro, Allan Kaprow, Sam Goodman, Allan D'Arcangelo beteiligt.
Lurie, der für ein paar Wochen nach Berlin gekommen ist,' stammt aus Leningrad, wo er J924 geboren wurde. Im Krieg verschlug es ihn nach Westen, seit 1946 lebt er — als Maler Autodidakt — in New York. Seine Leinwände, zum Teil sehr groß, die größte fünf Meter Iang, bestehen aus grellen Absagen an die Zivilisation, speziell die amerikanische (den „Alptraum mit Klimaanlage“, um Henry Miller zu zitieren). Pin-up-Girls als Zeichen kommerzialisierter Erotik werden mit Szenen aus dem Hitlerkrieg, Korea, Bürgerrechtskämpfen, dem Anfang von Vietnam, kurzum: der öffentlichen Brutalität collagenhaft kombiniert. Flammende „NO“-Zeichen stehen dazwischen, Zerreißungen und Übermalungen durchbrechen das wüste Durcheinander, dazu spärliche „Love"-Hoffnungen, wohl aus frühen Hippie-Tagen — eine ekstatische Kunstform, chaotisch im Ausdruck, idealistisch in der Gesinnung.
„Sind ästhetische Eindrücke erwünscht oder unerwünscht?", fragte ich den Maler.
„Sie sind erwünscht", antwortete er. Das alte Problem engagierter Malerei. Wie weit darf und muss man gehen mit dem Appell an das Gewissen? Bis an die Grenzen dessen, was wir „Kunst" nennen? Darüber hinaus? „Anti-Kunst“ ist das also nicht — im Sinne von Schwitters oder Duchamp —, eher schon Anti-Anti-Kunst. An einer Seitenwand findet sich, im Seidensiebdruck reproduziert, ein dokumentarisches Foto, die auf einem Lastwagen übereinandergestapelten KZ-Leichen. Als Beschriftung liest man darunter: „Assemblage von Adolf Hitler, 1945“. Der Künstler hat, wohl um Missverständnisse zu vermeiden, als Erklärung einige Zeilen verfasst und an die gleiche Wand gehängt. Ihnen zufolge will er mit dieser Umsetzung Kritik am Super-Ästhetizismus üben, der selbst die grausamsten Geschehnisse in Kunst umzumodeln versteht. Und, so betont er, er betrachte das auch als Selbstkritik.
Eine ehrliche Überzeugungskunst also, bewusst kunstlos dargeboten: Die Leinwände hängen vielfach ohne Keilrahmen in der Galerie, und es werden nur solche der „NO"-Zeit, des Neinzeitalters gezeigt. Lurie verzichtet —wohl ebenfalls bewusst — auf spätere Arbeiten. Der Impuls von damals soll vermittelt werden, eines Anti-Pop-Amerika, in dem sich — von heute aus gesehen — vieles ankündigte, eine gehörige Portion jenes Unheils zum mindesten, das mittlerweile über Volk und Staat der USA hereingebrochen ist.
Der Impuls als solcher mag ehrlich, berechtigt, verdienstvoll gewesen sein, in einem Buch („From Pinups to Excrement No-artists Rebel“) soll seine Geschichte demnächst in Buchform herauskommen; Lurie wird selbst als einer der beiden Herausgeber fungieren. Ob er genügte, ob es ein weittragender, ein schöpferischer Impuls war, steht jedoch dahin. Qualitativ ist noch der Durchschnitt der Pop-Art dem besten des hier Gezeigten weit überlegen, und leidenschaftliche Impulse haben es an sich, dass sie besonders rasch historisch werden.
Der agile Salvador Dali hat einst bei einem Empfang im Museum of Modern Art erklärt, Dada sei eine aristokratische Revolution gewesen. Das ist natürlich blanker Unsinn (und auch wohl als solcher gemeint), aber demgegenüber empfand sich die NO!art, wörtlich zitiert, als eine „Rebellion der Unterprivilegierten-Lumpenproletariat-Künstler“. Eine Einschätzung, bei der eine gehörige Portion Selbstmitleid im Spiel sein dürfte. Denn engagierte Kunst muss und will in jenem Augenblick zur Wirkung gelangen, in dem sie entsteht. Jetzt, wo für sie schon die Zukunft eingesetzt hat, ist es wohl nötig, auf verschwörerische Cliquen zu verweisen, die ihre Wirkung verhindert haben. Besser wäre es, man könnte auf etwas pochen, das allein Gegenwart und Zukunft hat in der Kunst: auf Können. Der moralische Aspekt dieser Ausstellung bleibt trotzdem eindrucksvoll genug, auch wenn es sich, um George Grosz abzuwandeln, der sein Leben als „Ein kleines Ja, ein großes Nein" beschrieb, um ein großes Nein und auch nicht allzu große Kunst handeln sollte.
Publiziert in: DER TAGESPEGEL, Berlin 1973