Klebeband. Klebeband hält sein Leben zusammen. Die Ablagerungen aus all den Zeiten, die an seinen Wänden In oft schon überlappenden Schichten mit Klebeband angebracht sind: Fotografien, Zeitungsausschnitte, Listen und ausgefranste Buchseiten, knackige Pin-ups, mit Küchenfolie geschützte fragile Papiere, Zeichnungen, Manifeste. Klebeband hält seine Börse zusammen, deren morsches Leder den Inhalt längst gesprengt hat. Klebebandrollen bilden kleine Türme auf seiner Schreibtischkante. Wie in einen Kokon hat er sich darin eingewoben. Als ob er fürchten müsste, ohne diese Schutzhüllen selbst den Halt zu verlieren.
So zeigt uns Naomi Tereza Salmon in ihren großen Fotografien die Wohnung des New Yorker Künstlers Boris Lurie. Die Fotografin, 40 Jahre jünger als Lurie, fühlt sich von diesem Leben in einer Collage angezogen und gefesselt. Die Stapel von Manuskriptseiten die gleich von der Tischkante zu gleiten drohen; Bücher, die kaum noch halten, so vollgestopft sind sie mit Zetteln; mit Bildern vollgestellte Flure; Luries Leinwandbilder, die eingerahmt fast Stoß an Stoß über dem Sofa hängen. Niemand kann mehr auf einer Reihe von Stühlen Platz nehmen, sie sind schon besetzt von Kisten mit Kunst.
Man glaubt, kaum atmen zu können in dieser Enge. In dieser Verklammerung von Leben und Werk. Und irgendwo hängt ein Schild an der Wand mit drei Worten: "optimistic disease facility". Auch das hat Naomi Tereza Salmon fotografiert und zum Titel ihrer Ausstellung über Boris Lurie gemacht.
Das ist ein ungewöhnliches Konzept: Eine Künstlerin stellt einen Künstler vor. Sie dringt wie eine Forscherin in seine Wohnhöhle ein, im Bann geschlagen von der Sichtbarkeit, ja dem spürbaren und greifbaren Raum, den Erinnerung in seinem Leben einnimmt. Was Boris Lurie in seinen Werken wie die Schichten eines endlosen Verbandes um- und umlegt, seziert sie wieder in feine Schnitte. Sie gibt den Dingen Raum. Und in diesem Raum erhalten wir eine neue Freiheit, Boris Lurie und seinem Werk, dem Menschen und seiner Geschichte zu begegnen.
Im Mittelpunkt der Ausstellung, die das Haus am Kleistpark aus Buchenwald übernommen hat, stehen die Gedichte von Boris Lurie. Sie sind auf die Wände geschrieben und über Kopfhörer zu hören. Da reichen stets wenige Zeilen für einen großen Sprung in der Zeit. Schon die Schrifttypen katapultieren den Laser zurück nach Deutschland, vierziger Jahre, und den Nationalsozialismus zuvor.
Publiziert in: tip, Berlin, Nr. 11/04 vom 20.05. - 02.06.2004