Es war 1960 oder 1961 als Kamerad Stanley wie auf einer Sandwolke aus der vom Winde verwehten Brooklyn-Sinai-Wüste in die 10th-Street-Coop-Galerieszene reingeblasen wurde. Der Juden-Beduine war die ganzen vorgeschriebenen 40 Jahre in der Wildnis umhergeirrt. Seine eisblauen Augen hatten sich ständig auf das Gelobte Land Manhattan gerichtet, nicht nur, um es zu erobern, sondern er wollte, wie David, das Gerechte Land auf das ganze heidnische Amerika ausdehnen.
Solch einen wunderlichen und widersprüchlichen Wüstenvogel hatte ich noch nie vorher gesehen. Dieser Brooklyn-Lehrer aus der Lower-Middle-Class und liebevolle Familienvater schien kaum der Mensch zu sein, sich den Mantel des Propheten umhängen zu können, um jemanden aufzurütteln, anzuklagen oder zu quälen. Während des Krieges hatte er in der Normandie bei den Sanitätern gedient. Er muss viele zerschmetterte Körper gesehen haben, da seine späteren NO!art-Collagen darauf basierten. Er pfropfte Fotos von Gesichtern auf Gesichter und von Körpern auf Körper.
Ich traf ihn als Schriftsteller. Er war gerade dabei, die Anthologie " Beat Coast East" herauszugeben und wollte darin meine NO!art Arbeiten aufnehmen. Ein Buch über Beat Poetry, das eine Menge seiner eigenen Zeichnungen enthielt. Gute Zeichnungen, wirklich ... Jedoch personifizierte er nicht den rechtmäßig registrierten und anerkannten Künstler. Stanley kümmerte sich nicht um solche feinen Unterschiede und Stanley hatte Recht!
Als Lehrer arbeitete er sehr gewissenhaft und nahm seine Arbeit sehr ernst. Zur Arbeit ging er immer anständig angezogen hin. In der Schule verlangte er Leistung, Gehorsamkeit und gutes Benehmen.
Jedoch war seine kulturrevolutionäre Arbeit wild und unstrukturiert. Sie gründete sich zu gleichen Teilen auf das Predigen über das Gerechte Leben und auf die Eroberung von Frauen. Dieser Lehrer brauchte dauernd die Anerkennung von Frauen. Da gab es keinen Konflikt für ihn: Beide Ziele verfolgte er mit gleicher Wichtigkeit. Um die Größe der Wahrheit in sich selbst fühlen zu können, brauchte er erst einmal die Anerkennung durch das weibliche, regenerative Prinzip. Er war nicht besitzergreifend in Bezug auf Frauen, denn er verschlang sie nur und konnte sich leicht wieder von ihnen lösen. Als wichtig betrachtete er nicht die Person, sondern das ganze weibliche Geschlecht. Er durchlebte die ganze Analyse von Reich. Lenin hätte gegrinst über diesen sexual-anarchistischen Unsinn. Aber Lenin war in diesen Tagen nicht da, sondern nur Stanley. Und das ist es ja auch, warum wir da stehen, wo wir jetzt sind.
Für Sam Goodman und mich - wir hatten gerade mit der NO!art March Galerie auf der l0ten Straße angefangen - erschien er uns als Prophet, als ein Geschenk Gottes. So schien es zumindest. Er war der geborene Propagandist für unsere "Sache". Total befreit von den Gesetzen der menschlichen Sittsamkeit bedeuteten ihm die Worte "Furcht" und "Scham" nichts. Die Zeit war kurz. Wir alle fühlten das. Deshalb hieß es für uns, alles auf eine Karte zu setzen, und zwar in anständigen Portionen.
Stanley bombardierte sein Publikum mit hartnäckigen Wiederholungen. Denn Stanley glaubte daran! Wiederholungen, um zu wiederholen, bedeuteten für ihn kein Mangel an Feingefühl, sondern waren Ausdruck seines Wesens in destilliertester Natur. Wenn er den Frauen sein Evangelium predigte, die er jagte, benutzte er niemals Finten oder taktische Tricks. Er wollte nur ihren Körper, wenn sie seine Ideen geradewegs bewunderten oder akzeptierten. Eine sehr habgierige, aber total ehrliche Einstellung. Sein Geschlechtstrieb und sein Anliegen waren ein und dasselbe. Jedenfalls bestand in seinem Kopf diese perfekte Einheit. Natürlich haben andere dies anders gesehen.
Wir akzeptierten Stanley zuerst nicht als einen Visual Artist, sondern als einen Poeten. War das Snobismus? Das hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Persönlicher Stil entwickelt sich in mühevollster Arbeit über Jahre hinweg. Wir glaubten immer noch an solche Götzenbilder. Sind das Reste bürgerlichen Denkens? Es entstand wahrscheinlich unter den gegebenen Umständen.
Jedoch bedeutete Stanley das übernehmen von Stilen gar nichts: Wenn er ihn zu seinem eigenen machen konnte, dann gehörte er ihm. Es machte ihm genauso nichts aus, wenn jemand seinen Stil geklaut hätte. Allerdings war die Situation meist umgekehrt, Stanley war am Klauen. Er hatte Glück gehabt: Von all der Kunstgeschichte und dem sogenannten Berufsethos war er nicht verseucht worden. Er arbeitete mit solch unglaublicher Mühelosigkeit, Geschwindigkeit und Lässigkeit, dass er den "Urheber" , der natürlich sehr sauer darüber war, mit seinem bauchrednerischen Talent nur noch staunend links liegen ließ. Schließlich nannte er den 1962er Punk-Stil sein eigen.
Aber dann hatte Stanley auch noch andere Dinge im Kopf, nicht nur "Kunst" . Er war auch von der Idee besessen, die Gesellschaft zu einer Stammes Organisation "aufpolieren" zu müssen. So verstehe ich das. Was ist denn noch "Kunst", wenn man die sozialen Strömungen der Völker, die sozialen Belustigungen der ganzen Welt ständig einatmet? Welche Bedeutung hat dann ein "Urheber" oder ein hart arbeitender "Organisator"? Wenn Gottes heißer Sandsturm aus der Sinaiwüste rüberbläst, dann zählt nur sein Prophet. Wir mussten ihn aus der Gruppe ausschließen.
Seit der Niederlage der NO!art, 1964, traf ich Stanley gelegentlich nur einige Male, und zwar zwangsläufig umgeben von den Mitgliedern seiner "Familie", die eifrig an jedem Wort hingen, das von des Meisters Lippen kam. Eine Unterhaltung mit ihm war schwierig.
Ungefähr 1970 besuchte ich ihn in seinem Haus in der King Street in der Village. Ich war glücklich, etwas von seiner exzellenten Arbeit für mein geplantes Buch über die NO!art retten zu können. Er arbeitete astrein, keine Probleme.
Er saß in einem beeindruckend großen, mit buntem Stoff bezogenen Lehnsessel. Er saß da ruhig und friedlich, und war glücklich darüber, seine erfolgreiche Leistung, nämlich seine "Familie", vorzeigen zu können. Das Zimmer war ordentlich und sauber. An den Wänden hingen farbige Abstraktionen orientalischer Symbole in leuchtenden Farben. Das war was ganz anderes. Anders als sein NO!art-Schrei, voll von Satire, Gewalt und Züchtigung.
Vier seiner "Family"-Girls saßen in der Küche rund um einen Eimer und schälten Kartoffeln. Sie redeten leise miteinander, während Stanley und ich uns unterhielten. Der Rabbi wog jedes Wort ab. Kostete genüsslich jedes Wort, das er von sich gab. Ich fühlte mich so, als wenn ich meinen alten, weißbärtigen, chassidischen Onkel mütterlicherseits in Russland, und zwar in Riga, besuchen würde. Dieser Onkel Moyshe hatte nur eine Ehefrau, nämlich Tante Mina. Sie war ein bisschen schwerhörig, war eine fantastische Köchin jüdischer Süßigkeiten und machte sich immer nur in der Küche zu schaffen. Das Esszimmer betrat sie nur dann, wenn sie Gäste bediente. Stanley war wieder da, wo man angefangen hatte. Der Rabbi lebte zufrieden auf seine alten Tage.
Ich sah Stanley zum letzten Mal im Catholic St. Vincent's Hospital in der Village vor zwei Monaten. Wie ich später herausbekam, lag er ganze sechs Wochen dort und starb dann an einer geheimnisvollen Gehirnerkrankung. Eins von seinen Mädels saß ständig an seinem Krankenbett, wohingegen ein anderes immer das Telefon abnahm, wenn ich anrief. Ich durfte ihn besuchen. Eines der Mädchen winkte mir schon von der Tür seines Krankenzimmers aus zu, als ich rüberkam. Dann erzählte sie mir, dass Stanley meine Hand halten wolle. Ohne zu sprechen, verständigte er sich in einer bestimmten Art mit den Mädchen. Ich hielt seine Hand und bewegte sie so in spielerischer Weise, so wie Kinder es tun, wenn sie im Kreis tanzen und ihre Hände und Arme nach einer Melodie bewegen.
Am Anfang schien das Stanley gut zu gefallen. Dann jedoch schaute er mich mit seinen wasserblauen, nicht jüdischen, erschreckend verwirrenden Augen an. Weiß Gott, was ihm durch den Kopf ging. War er ärgerlich, weil ich hier blieb und er diese Welt verlassen musste? Oder: Gab er mir eine Message, gab er mir Anweisungen für meine Zukunft? Oder: Wollte er auf etwas hinweisen, was in der Vergangenheit zwischen uns gewesen war? Oder: Wollte er mich für etwas rügen? Das Starren eines Mannes angesichts des Todes kann man nicht ernst genug nehmen.
Dann murmelte er etwas und das Mädchen sagte, dass ich gehen soll. Hatte ich etwas falsch gemacht? Fand er das Händeschütteln unangebracht in der Situation? Hat es ihm was ausgemacht, dass ich mit dem Mädchen gesprochen habe, während ich seine Hand schüttelte? Es war mir äußerst unangenehm, ihn auf diese Art und Weise verlassen zu müssen.
Einige Tage später schickte ich ihm einen Blumenstrauß mit einem Zettel "Gute Besserung, Stanley". Merkwürdigerweise erholte er sich, aber nur vorübergehend. Er versicherte mir am Telefon, dass er wieder gesund werden wolle. Es klang wie ein Versprechen und eine Herausforderung.
Ich vergaß Stanley für einige Wochen wegen anderer Probleme und wegen anderer Leute, die starben, so ein alter russischer Freund und mein letzter Onkel in Leningrad. Eine Kellnerin in einer Second Avenue Imbissstube erzählte mir kürzlich, dass Stanley wirklich gestorben sei. Ich rief bei ihm zu Hause an, um mich zu vergewissern, ob das stimmt. Eines der Mädchen sagte mir, ja, es sei richtig, er sei am 7. März 1980 gestorben. Und die Mädchen würden seine Asche in der Wohnung aufbewahren.
Und ich gehe aus, heut nacht, um mir eine Strip-Show anzusehen. Vielleicht kann mich ein frecher Po davon überzeugen, dass wir noch leben.
Publiziert in: ►Lurie, Boris; Krim, Seymour: NO!art, Köln 1988