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Thomas B. Hess:
Notiz zu den italienischen Ausstellungen (1962)

Sam Goodman und Boris Lurie sind beide echte gesellschaftliche Realisten. Mit sozialen und politischen Fragen tief verbunden, haben sie beschlossen, als bürgernahe Künstler zu arbeiten, sich verantwortlich zu fühlen und ihre Ateliers - ihre Kunst, ihr Leben, ihre Beziehungen - in die ideologische Arena zu verlegen. Sie drehen die allseits bekannten ästhetischen Werte von innen nach außen, um deren ethische Eingeweide zu entdecken, nämlich Sehnen, Herz und Mist.

Lurie mit seinen besudelten Pin-ups, der Erotik der Unterdrückten, und Goodman mit seinen zerquetschten Zelluloid-Babies buchstabieren eine erstickende Rhetorik, die zeigt, wohin wir gehen.

Wie alle Künstler benutzen sie die künstlerischen Mittel, jedoch schmuggeln sie keine Botschaften des Kalten Krieges in den Aspik ihres Stils wie es etwa die linken traditionellen sozialistischen Künstler zu machen pflegen. Während ein Guttuso, ein Segueros, ein Lorjou oder ein Refregier in der konservativen akademischen Manier des Tafelbildes malen, um damit irgendeine ideologische Anekdote aufzupolieren, haben sich Goodman und Lurie der neuesten Ausdrucksmittel der New Yorker Schule bedient, nämlich des Action Painting. Wo Rauschenberg, Kaprow oder Oldenburg die "Spitzen" des Abfalls in formaler und poetischer Art und Weise verwenden, weisen diese beiden Maler alle Übertragungen und Metamorphosen zurück. Sie kommentieren die Schande der Gesellschaff mit deren zurückgelassenen eigenen Abfallprodukten, sie kommentieren flüchtiges Material für Flüchtlinge aus unserer großen Unordnung, aus unseren peripheren Obszönitäten, aus unserem Müll, aus unserer widerlichen industriellen Verschwendung.

In einem armen Land würde man keinen Hühnerknochen auf der Straße finden. Goodman und Lurie verkünden aus dem "eingeplanten Verschleiß" der amerikanischen "Überflussgesellschaft" heraus ein pornographisches Versailles (diese Moralisten könnten genauso gut in London, Paris, Mailand, München oder Leningrad im Müll wühlen).

Die Moderne Kunst drückt auf irgendeine Art und Weise immer Protest aus. Gewöhnlich liegt der Protest im Schweigen, in der Negation, im Teufelsschrei - non serviam. Manchmal drückt sich der Protest auch in ungewöhnlichen Bildinhalten oder in der Wildheit der Ausdrucksmittel aus.

Goodman und Lurie protestieren direkt, sie machen keine Anspielungen. Sie ziehen ohne zu zögern die Notbremse, um so die höflichen Unterhaltungen im Salonwagen zu unterbrechen. Sie haben mit ihrer Kunst Wege gefunden, die sichtbare Wahrheit herauszuschreien, mit ihr herauszuplatzen, und zwar in Kenntnis des enormen kunstgeschichtlichen und ästhetischen Wissens, das ihnen zur Verfügung steht.

Die Ironie in der Kunst kommt natürlich immer dazwischen. Wären Goodman und Lurie nicht so gute Maler, würden ihre Ausbrüche eher Gestammel sein. Sogar dort, wo sie zutiefst schockiert wurden, sind sie, als Künstler, noch auf Schönheit gestoßen. Kunst schleicht sich immer wieder ins Atelier zurück, sogar wenn der Künstler den Mauern entflieht und auf die Straße gezogen ist. Hier entsteigt Venus einem Meer aus Scheiße.

In dieser endgültigen Schicksalswende liegt ihre eigentliche Bedeutung. Nicht umsonst nannten sie ihre Ausstellung in New York "Doom"-Show. Ihr Untergangsschrei aber ist auch ein fröhliches und wildes Zeugnis für eine Auferstehung.

Publiziert in: Lurie, Boris; Krim, Seymour: NO!art, Köln 1988

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THOMAS B. HESS: He was the editor of Art News, the oldest and most widely-circulated fine arts journal in the world. From editorial assistant to executive editor and finally to managing editor, from 1965 until his death, Hess was an early proponent of the work of Willem de Kooning, a close confidant of Elaine de Kooning and Harold Rosenberg, and an integral member of the famed Artists' Club on East 8th Street. Throughout his career Hess played an integral role in championing Abstract Expressionist art and art criticism.
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