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Fielding Dawson:
Die March-Gruppe (1970)

Im Frühjahr 1958 bewegte sich die New Yorker Kunstszene allmählich auf ihren Höhepunkt zu. Wie von einer unsichtbaren Zentrifugalkraft getrieben zerfiel das Zentrum in der 10ten Straße und löste sich nach und nach auf. Auch ich, irgendwie davon beeinflusst, versuchte in der Zeit zu fliehen, vor mir selbst zu fliehen. Doch wie immer führte mich dieses Davonlaufen zu mir selbst zurück. Eine neue und sehr schwierige Phase begann für mich. Ich fragte mich, womit sich diese Kontinuität des Sich-selbst-erklären-Wollens, des Sich-selbst-erkennen-Wollens eigentlich begründen lässt? Offensichtlich ist das mein ganz persönliches Problem, das mich schon immer beschäftigte, denn ich habe bisher auch wenig Lesbares darüber gefunden. Aber ich will das jetzt nicht weiter erörtern, weil hier einfach der Raum dazu nicht ausreicht. Jedenfalls glaube ich, dass der Katalysator, der das Trauma der 50er Jahre entstehen ließ, mit zum Verständnis der geometrischen Strenge, die sich in der heutigen Kunst durchgesetzt hat, wesentlich beigetragen und die Trennung oder sogar Tabuisierung von Sehen und Verstehen mit herbeigeführt hat. Ich habe das Gefühl, daß sich die Künstler heutzutage nur noch von der Farbe führen, tragen, leiten, ... lassen. Und das ist ganz schön wenig. Es ist mehr oder weniger nur ein gefühlsmäßiges Bemalen eines quadratischen Stückchens Leinwand, um irgendetwas wildes, rohes, grausames, ... zum Ausdruck zu bringen. Und dieses Stückchen Leinwand soll das ausdrücken? O.K., das sind nur Worte!

Wie gesagt, um 1958 brach die Hölle los. — Überall machten neue Galerien auf. — Die Kritiker mit ihren Dreizeilern für „Art News" und „The Arts" versuchten krampfhaft, immer neue Ausstellungen zu entdecken, und wurden dabei von ihren Verlegern zusammengestrichen. — Wie ein heraufziehendes Gewitter kamen die Beatniks in die Stadt. Mit ihnen kamen die jungen Mädchen. Das Black Mountain College hatte gerade zugemacht. LeRoi Jones begann mit der Herausgabe seines Magazins „Yugen". Wir trafen Gil Sorrentino mit seinem Freund, einem dünnen, bleichen Burschen mit glatt nach hinten gekämmten Haaren. Seine Freunde nannten ihn Cubby. Und der wurde allen freundlich zurückhaltend als Hubert Selby Junior vorgestellt. Und mit der Brooklyn-Gang rannten wir ins gerade eröffnete, großartige „Five Spot". Da fingen die Erinnerungen an. Erinnerungen an Monk, Sonny, Dave Amram und an so viele andere. Junkies, Gangster und Polizisten gehörten auch bald dazu. 1959 war der letzte lustige Sommer, den die „Clique" noch mitmachte. Dann kam das Ende. Die Wende zu den 60er Jahren. Wir wussten es. Es war wirklich das Ende. In jeder Hinsicht. Es ist jammerschade, dass niemand mal niedergeschrieben hat, was er dabei empfand, wie er selbst darauf reagiert hat. Es war doch so viel los gewesen. Doch zu viel hatte sich geändert und das tut immer weh. Die March Galerie fing mit den wilden Collagen an. Die Künstler dort sonderten sich rücksichtslos ab. Das war die erste innere Veränderung, die stattgefunden hatte. Jeder will das vergessen oder ignorieren. Für mich war die „March" der Untergang. Ich mochte so was nicht, überhaupt nicht, ganz und gar nicht. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich musste da raus. Mir stürzte sowieso schon überall die Welt über meinem Kopf zusammen.

Trotzdem bin ich dabei gewesen, bin dort gewesen. Doch in meinem Inneren war ich woanders. Ich hing vollkommen daneben. Fühlte mich beschissen. Trank wie verrückt, rauchte und rauchte, schmiß Pillen, lieh mir überall Geld, ... Mit mir stimmte irgendetwas nicht. Wollte ich mich tatsächlich ängstlich vor einer Entscheidung drücken? Ich quälte mich. Alles um mich herum war höllisch, chaotisch, ein Ritt auf den Wellen. Wir flippten aus ... Erinnert ihr euch noch an unsere Parties? Oh ja, keiner kann sagen, dass das keine lustige Zeit war. Es war richtig was losgewesen. Waren die Mädchen nicht gut gewesen?! Und die Parties unterm Dach! Wir tanzten und tanzten, machten uns alle irgendwie gegenseitig an. Ja, gestritten haben wir uns natürlich auch. Doch das gehörte dazu. Man muss die Hölle durchs Paradies entdecken, muss den miesen Dingen eins in die Fresse hauen. Die von der March Galerie haben das schon richtig gemacht. Sie wollten auf ihre Art den Umschwung erzwingen. Aber für wen? Sie waren von einer zornigen, eigensinnigen Willenskraft beseelt, vor der ich weglief. Ich hatte Angst, Angst vor diesem mir ähnlichen Willen, überall! Die Wandlung, die ich hätte durchmachen müssen, hätte mit einer ähnlichen Brutalität wie bei den March Leuten vollzogen werden müssen. Doch ich war an einem toten Punkt angelangt. Ich stand mir selbst im Wege mit meiner Selbsterkenntnis und dem, was ich wirklich war. Ja, es war Anfang der 60er Jahre. Während ich in den Kneipen rumhing, besoffen und pleite, ärgerte ich mich über die Leute von der March. Ich nahm es ihnen übel, was sie machten. Einfach übel.

Na ja! Vor einiger Zeit— es war vielleicht zehn Jahre nach alledem — traf ich eine rothaarige Frau, wie sich herausstellte eine alte Freundin, die ich seitdem nicht mehr gesehen hatte. Früher nannte sie mich immer Fee Dawson. Wir gingen zusammen einen Trinken. Mit ihrem typischen Cowboy-Lächeln sagte sie mir: „Fee, weißt Du, ich habe nie geglaubt, dass Du es schaffen wirst!" Ich lachte los und sah sie groß an. Ich war ihr dankbar. Sie hatte nichts vergessen, noch alles in Erinnerung. In dem mir eigenen unschlüssigen Tonfall antwortete ich ihr: „Ich auch nicht!"

Publiziert in: Lurie, Boris; Krim, Seymour: NO!art, Köln 1988

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FIELDING DAWSON:: Schriftsteller; eng befreundet mit dem verstorbenen Franz Kline; Autor eines Romans aus der Zeit des New Yorker Abstrakten Expressionismus.

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