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Georg Bussmann:
Jew-Art (1995)

Pavel:  Wie auch immer, die Umgekommenen können nie IHRE Geschichte erzählen, da wäre es vielleicht besser, gar keine Geschichten mehr zu erzählen.
Art: Aha. Samuel Beckett hat mal gesagt: ‚Jedes Wort ist wie ein unnötiger Fleck; auf dem Schweigen und dem Nichts' .
Pavel: Ja.
Art: Andererseits hat er's GESAGT.

Dieser Dialog stammt aus dem Comic "Maus M" von Art Spiegelman (1991).(1) Pavel ist Auschwitz-Überlebender und Psychiater. Art ist der Autor des Comic und sein Patient. "Maus II" erzählt wie "Maus l" die Geschichte von Art Spiegelmans Vater vor und in Auschwitz, und zwar wird diese Geschichte erzählt in Form eines Comic - wofür der Autor, bezeichnenderweise besonders in Deutschland, kritisiert wurde. Es ist klar, worum es in der Diskussion geht: Das Verstummen hat immer seine eigene Moral - wenn es nicht Ver-Schweigen bedeutet. Also bezeugt man dem Respekt, um dann doch mit dem Reden zu beginnen. Das kann wie bloße Rhetorik aussehen, ist aber keine, denn immer noch geschieht es bei diesem Thema, dass es einem unterwegs die Sprache verschlägt, dem Erzähler wie dem Zuschauer oder Leser. Flatcar Assemblage, 1945 by Adolf Hitler ist eine Arbeit von Boris Lurie von 1961; sie zeigt das Foto eines flachen Lastwagens, beladen mit den nackten ausgemergelten Leichen von KZ-Häftlingen. Man kennt solche Fotos, mehr vom Weg- als vom Hin-Schauen, zumeist wurden sie aufgenommen von den Kriegsfotografen der Truppen der Alliierten, die die KZ's befreiten. Man sieht Appellplätze, bedeckt mit kreuz und quer liegenden Toten, Planierraupen, die diese zu Haufen zusammenschieben, damit sie verladen werden können und verscharrt in Massengräbern. Während bei den Katastrophen der Tagesschau die Toten gleichförmig aufgereiht werden, die Köpfe zu oberst gebettet, sind das hier wirre Haufen sperrigen Körpermaterials. Es ist, als würde mit dem Fehlen der ordentlichen Ausrichtung der Toten auch die Geste letzten Respekts der Lebenden vor diesen Toten fehlen. Andererseits: es waren so viele an so vielen Orten ... Ist das wichtig festzustellen oder ist es nur ein hilfloser Versuch, Fassung zu gewinnen?

Wie überhaupt geht man um mit diesen Fotos? Sind sie nicht längst auf doppelte Weise historisch geworden? Der Abstand zu der Realität, die sie wiedergeben, wird immer größer und ebenso der zu dem Lebensabschnitt Schule, wo man als Deutscher (normalerweise) mit diesen Bildern bekannt gemacht wurde. Geschichte ist, wie auch immer, d.h. auch für die, die sie erlebt haben, Material zur Konstruktion jeweiliger Gegenwart. Also hat es eine Logik, wenn man heute den Holocaust in Deutschland ungestraft einen Mythos nennen darf. Frage also: wer redet noch davon und wie und warum, und wer hört zu? Vielleicht ist jetzt die Zeit der großen zentralen Denkmäler gekommen, der großen Zeichen, die das Kollektiv über die Schrecken der Erinnerung erheben wollen, während gleichzeitig KZ-Gedenkstätten wegen Sparmaßnahmen von Schließung bedroht sind. Auch das wäre eine Art Konsequenz, die Sinn machte.

In diesem Moment einen retrospektiven Blick auf NO!art und das Werk von Boris Lurie zu werfen, wie funktioniert das? 1973, in der Galerie Rene Block, Berlin, gab es da schon mal einen solchen Versuch, über den Heinz Ohff damals wie folgt urteilte: "Qualitativ ist noch der Durchschnitt der Pop-Art dem Besten des hier Gezeigten weit überlegen ... leidenschaftliche Impulse haben es an sich, dass sie besonders rasch historisch werden."(2) Das klingt nicht schlecht, ist vor allem als Urteil entschieden ("Die Guten in's Töpfchen, die Schlechten in's Kröpfchen.") und könnte dennoch das politische Potential dieser Arbeit verfehlen. NO!art an der Pop-Art zu messen, der Position, gegen die die NO!art angetreten war, sitzt einer Tendenz der Selbstkommentare der Gruppe auf. In diesen wüsten Tiraden und Hassausbrüchen ist zwar von den erfolgreicheren Kollegen immer mal die Rede, aber doch eher als ein Anlass, der die Unversöhnlichkeit des Zornes aufrecht erhält. Schließlich, was könnte einen Revolutionär mehr wütend machen, als wenn er sieht, dass der letzte Schritt von denen, die ihn tun könnten, nicht getan wird - und natürlich ist ein bisschen " Nahrungskonkurrenz" auch dabei. Heute darauf geschaut, mache ich eine andere Erfahrung. Was für eine Wut, was aber auch für eine Schwäche, die so viele Worte braucht, um eben sich zu übertönen und vergessen zu machen. Einen Moment kann der Zorn eine wie alttestamentarische Wucht haben, wie bei Jesaja 1.7.:

"Euer Land ist wüst, eure Städte sind mit
Feuer verbrannt; Fremde verzehren eure
Äcker vor euren Augen und es ist wüst
wie das, so durch Fremde verheert ist.",

aber dann ist da diese Obszönität, diese Ekelorgie, die Partnerscheiße (Aronovici) und dieser persönlich gemeinte Hass, ausgeschüttet wie aus Kübeln.

Und überhaupt, immer wieder dieses Superzeichen: die Scheiße. Kunst als Blick in die Mülltonne. In den 60er Jahren richtet sich das gegen die "Flut von massenproduzierten Ja's", wie die Galeristin Gertrude Stein schrieb. Die zu übersehen und auszublenden, hat man heute eher gelernt, es gehört zum kulturellen Überleben. Was mich stört, ist das Ohnmächtige dieser Geste und der Ekel und die Ruhelosigkeit darin. Mich stört der Geruch des Losertums, der meinen gewohnten Gebrauch von Kunst als privatem Selbstrettungsversuch verhöhnt. Scheiße als Kunst hat das Psychotische, das Formzerfall immer hat. Sie bedeutet nicht nur das Ende aller Sublimation, sie ist Arbeit an der Negativität, am Ekel usw. Als Bild ist sie Metapher für die Gestaltlosigkeit des Verdauten = Verwesten, d.h. sie hat immer auch mit Tod und mit der Angst davor zu tun (Durchfall als Symptom). NO!art als Projekt verweigert den Sublimations- und Sinngebungszwang von Kultur, der das Schlechte ästhetisiert und damit immer letztlich aushaltbar macht. Auch jetzt wird Kunst noch als "symbolische Ebene" genutzt, aber es ist sozusagen eine letzte Nutzung, eine durch Zerstörung. NO!art "Untergangskunst" zu nennen, wäre zu harmlos, es geht um eine "Kunst der verpflichtenden Gewalt" (Stanley Fisher) und um die Totalität in deren Anspruch. Natürlich gehört es zur Dialektik des Systems Kunst, dass die Schärfe und Radikalität solchen Widerspruchs letztlich immer das System am Laufen hält, aber dieser theoretische Ansatz will verifiziert sein im einzelnen Werk, d.h. vom Macher realisiert, von Rezipienten ausgehalten und im Kunstbetrieb behauptet. "Kultur ist Müll und Kunst einer ihrer Sektoren, doch ernst als Erscheinung der Wahrheit", nannte Adorno das und steht damit in einer Linie mit Diogenes, der mit der Laterne am helllichten Tag auf dem Markt von Athen Menschen suchte, doch wohl um zu sagen, dass die, die er da sah, (noch) keine solchen seien. Noch der bösartigste Zynismus zeigt letztlich die Sehnsucht nach der Lebbarkeit des Ideals, das macht seine Schwäche, aber auch seine Dynamik, dieses Nicht-ans-Ziel-kommen aus.

Ein Bereich von NO!art wird von den beteiligten (jüdischen) Künstlern als "Jew-art" bezeichnet. Was ist darunter zu verstehen? Bevor man das beantwortet, merkt man, wie mit dem Etikett Jew = jüdisch das eigene Deutsche aufgerufen wird, ob man das will oder nicht - und man will es nicht. Ein Mechanismus, den man als unfruchtbar bezeichnen mag, der aber erst mal abläuft und eigentlich anwesend bleibt. Abwiegeln geht nicht, eher schon eine Art Überaffirmation, in dem man etwa das Wort "deutsch" ausdehnt, und z.B. aufhört von "Nazis" zu sprechen, stattdessen von Deutschen...

Unter "Jew-art" fallen zunächst die (zahlreichen) Werke, die Themen des Holocaust, des 2. Weltkriegs, des Faschismus und die Symbole des Staates Israel betreffen. Also von Boris Lurie etwa Immigrants NO!Box (1963), Railroad Collage (1963), Saturation Paintings (Buchenwald) (1959), Star of David over Swastika (1962), Saturation Paintings (Info to the U.S.) (1963) und andere. Zwei Beispiele: Railroad Collage (1963) und Saturation Paintings (Buchenwald) (1959). In der ersten Collage sieht man das bereits erwähnte Flatcar-Foto und eingeblendet ein Pin-up-Foto, auf dem eine Frau sich den Slip über den Hintern herunterzieht. "Saturation Paintings (Buchenwald)" zeigt ein Foto von befreiten KZ-Häftlingen, eingerahmt von Pin-up-Fotos einer üppig proportionierten Blonden in Dessous, die wie die Häftlinge gleichfalls den Blick auf den Betrachter richtet. Wenn man soweit mit dem Schreiben über NO!art gelangt ist, erscheint es wenig überzeugend, sich jetzt (erst) zu fragen, ob man dies als Kunst ernst nehmen kann, und die Sache also des Schreibens wert ist. Aber genau das könnte der Punkt sein, auf den es hinausläuft. Dass etwas historisch ist, ist doch noch kein Wert an sich, sondern dass es für meine Gegenwart als Mitteilung aktualisiert werden kann. Zunächst sind solche Arbeiten Ausdruck von Bewältigungsversuchen eines Überlebenden, die zu respektieren sind. Hier geht es Boris Lurie wie Art Spiegelmans Vater: "Er kotzt Geschichte aus", und als Nachgeborener schaut man dem zu. Natürlich ist dies Zuschauen nicht alles, aber es ist erst mal das Wichtigste, das, was die Arbeiten und einen selbst bei jedem Hinschauen immer wieder an die Grenze bringt. Alles weitere ist dann der Versuch, sich mit Worten wieder in eine "kritische" Distanz und Fassung hineinzureden.

Was soll das lakonische Entgegensetzen von Toten des Holocaust und nacktem Frauenhintern? Eine Möglichkeit wäre, es als Protest zu sehen, so wie dies der Kritiker Wolfgang Kahlke 1973 in der Welt tat.(3) Protest "gegen die Ästhetisierung der Kunst und des Lebens", Protest gegen "das Geschäft mit der Frau im Pin-up-Foto" und Protest dagegen, "wie schnell die Konsumgesellschaft nach dem Krieg das menschliche Leid vergaß". Bei dieser Sicht gibt es da die tragisch/ernsten, d.h. die guten Bilder der KZ-Toten und die böse/dummen der Konsumwelt. Wenn man es so sieht (sehen kann), steht man auf der richtigen Seite und ist sich seiner Moral sicher, ja, man stellt sich diese durch eine solche Interpretation her: Protest als symbolische Korrektur der Weltordnung im Kopf. Natürlich ist die Frage der Moral hier die entscheidende. Das würde z.B. deutlich, wenn man den Gut/ Böse-Dualismus einmal zynisch auf den Kopf stellte, dann wären die Toten die Toten und der Arsch das einzig Lebendige. ... Eine blasphemische Sicht, absolut nicht p.c., aber eben darum geeignet, die obligaten Wertungen aufzuweichen und das Fragen neu zu eröffnen. Vielleicht ist da keine Wahrheit, keine Ordnung, kein Richtiges gemeint, sondern eher eine Wut und Fassungslosigkeit über die Gleichzeitigkeit der Realitätsbehauptungen dieser Bilder, die in ihrer Allgegenwart und zugleich Abnutzung beide wie Müll erscheinen. Allerdings ein Müll, den man (Mann) nicht los wird, der an einem klebt (Bilderscheiße sozusagen). Obsession gegen Obsession, wenn man mit dem Nachdenken darüber soweit gekommen ist, reicht es einem. Ein trauriges Elend oder eine elende Traurigkeit ist das. Man versteht Isser Aronovici, der in seinen Texten "Partnerscheiße" und "Ein überlebender Nazi" dem eine Art grimmigen Humor abzugewinnen sucht,(4) der darin gipfelt, dass er diesen und anderen Werken einen "versteckten Faschismus" bescheinigt. Ich denke, Fassungslosigkeit ist dann nicht mehr nur ein Wort.

Es ist schmerzhaft, dem Selbsthass der jüdischen Künstler von NO!art zuzuschauen, wenn sie übereinander herfallen oder sich "als Ausgeburten von Hitlers Karikatur eines schleimigen Juden" sehen, auf die "alle von Hitler geprägten Vorurteile" passen (Seymour Krim).(5) Oder schlimmer noch, wenn der israelische Historiker Tom Segev feststellt, dass die Juden in Palästina von der fixen Idee besessen seien, dass nur die schlechtesten Elemente des jüdischen Volkes im Lager überleben konnten und alle guten ermordet worden wären. Auch bei Art Spiegelman gibt es diese Stelle, wo er von seinem hochneurotischen Vater feststellt, dass dieser eigentlich gar nicht von Auschwitz zurückgekommen sei.

Das ist bedrückend und peinlich, nicht nur, dass man als Nach-Hitler erscheint, alles wird noch komplizierter, nichts ist "bewältigt", alles geht weiter, alles bleibt heillos. Aber vielleicht auf einer nächsten Ebene, eine Drehung höher? Man erlebt die Beschädigungen und Verkrampfungen aus der Geschichte jetzt weniger im Schema Täter-Opfer, sondern eher als einen Angriff auf eine beiden Seiten gemeinsame Menschlichkeit, die in einem für alle gleichen Stehen unter den Bedingungen der Gegenwart besteht. So wie es Tom Segev kürzlich in einem Spiegel-Interview (14/1995) sagte:

"... Wir müssen die Erinnerung anders gestalten, wir dürfen die Vergangenheit nicht mythologisieren, wir müssen allein humanistische Lehren daraus ziehen ... Der Holocaust sollte kein Thema Israels mehr sein, auch keine deutsche Frage, sondern ein kultureller Code für alle Länder ..."(6)

Und die Rolle der Kunst dabei wäre, in jedem Moment die besonderen Bilder dafür bereit zu stellen, in den 60er Jahren diese und heute jene.

P.S. Die Bestimmung des Holocaust als "kulturellem Code" birgt eine mögliche Provokation. Codes sind allgemeine, mehr oder weniger abstrakte Zeichen, mit denen im gesellschaftlichen Diskurs Verständigungen und Absprachen erzielt werden. Der Holocaust, als kultureller Code gebraucht, heißt also, neben diesem Zeichen stehen exemplarisch andere, etwa Hiroshima, Tschernobyl, aber auch die Hexenverfolgung oder die Sklaverei. Alle diese Zeichen, die Reihe ließe sich fortsetzen, markieren Grenzüberschreitungen, oder anders gesagt, sie sind Beispiele grausamen Irrens und Scheiterns von Kultur als dem fortwährenden Versuch, den Menschen als Menschen herzustellen. Den Holocaust zu vergleichen, bringt einem in Deutschland den Vorwurf des "Geschichtsrevisionismus" ein, wie gerade wieder von Hannes Stein und Richard Herzinger formuliert.(7) Die Autoren sprechen im Namen "essentieller Kriterien, die zur Feststellung historischer Schuld und Verantwortung unentbehrlich sind". Wer wollte die bestreiten? Da wird nicht rechts, nicht links argumentiert, und doch ist das Lagerdenken; im Namen von was, der Wahrheit vermutlich? Beneidenswert, wenn man das glauben kann. Stein und Herzinger haben Recht, nur ist Recht haben, wie man weiß, eine eher abstrakte Sache, sozusagen ein Ideal. Die Wirklichkeit darunter ist ambivalent, undeutlich, in Bewegung. Woraus sich die Frage ergibt, ob der Holocaust in den Institutionen, die gesellschaftlich Erinnerung aufrechterhalten und Geschichtswissenschaften einpflanzen, den Schulen, nicht schon längst als "kultureller Code" gebraucht wird? Nachgeborene reden dort zu Nachgeborenen, ob es da nun um eine unvergleichlich einmalige oder um eine exemplarische Schuld geht, immer kommt es nur darauf an, daß überhaupt etwas aus der vergangenen Realität in der Lage ist, die im Moment erlebte Realität, die ja die einzig existierende ist, zu berühren, um sinnvoll wirksam zu werden.

Fußnoten:
(1) Art Spiegelman: Maus - Die Geschichte eines Überlebenden. Hamburg 1992. S. 45.
(2) Boris Lurie, Seymour Krim (Hsg.): NO!art. Berlin, Köln 1988. Abb. 39.
(3) Die Wert 18. 08. 1973.
(4) Boris Lurie, Seymour Krim, S. 27, S. 36-37.
(5) Boris Lurie, Seymour Krim, S. 81-82.
(6) Spiegel 14/1995, S. 219.
(7) Hannes Stein, Richard Herzinger: Hiroshima gleich Auschwitz? In: Spiegel 31/1995, S. 146.

Publiziert in: Katalog "NO!art", Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin 1995

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GEORG BUSSMANN, 1933 geboren, Studium der Kunstgeschichte in Heidelberg und Bonn. Nach der Promotion an der Städtischen Kunsthalle Mannheim, danach von 1967 bis 1970 als Ausstellungsmacher und Geschäftsführer am Badischen Kunstverein Karlsruhe und anschließend bis 1980 am Frankfurter Kunstverein tätig. Seit 1980 Lehrer für zeitgenössische Kunst am Fachbereich Kunst der Gesamthochschule Kassel, lebt in Frankfurt und Kassel.

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