Die Gedenkstätte Buchenwald hatte bis zum Frühjahr 1999 eine Retrospektive der bildkünstlerischen Arbeiten von Boris Lurie gezeigt, doch erst mit vorliegender, im Winter 2003 erschienener Publikation liegt das künstlerische und auch dichterische Werk dieses Ausnahmekünstlers hierzulande in Buchform vor. Lurie, der als Häftling von Buchenwald 1945 im Außenlager Magdeburg befreit wurde, wurde in New York zum Begründer der NO!art, einer radikalen (Anti-)Kunstbewegung, die bereits in den fünfziger Jahren Stellung gegen die markt- und konsumfreundliche Pop Art bezogen hatte. Ästhetisch mögen zwar einige von Luries Collagen an die frühen Arbeiten von Robert Rauschenberg erinnern, Luries Sujets sind allerdings wesentlich radikaler. Immer wieder erinnerte er in seinen Arbeiten an den Holocaust, kombinierte auf irritierende Weise Pin-up-Girls mit Abbildungen von KZ-Opfern. Ein wesentliches Ziel der NO!art-Gruppe, die kurzzeitig auch unter dem Namen »Jew Art« als Netzwerk fungierte (»Jew Art« sollte im Gegensatz zu »Jewish Art« kein Mitleid erregen, sondern einen radikalen, konfrontativen Bruch mit der Gesellschaft vollziehen), war nicht nur inhaltliche Provokation, sondern auch Verweigerung gegenüber dem Kunstmarkt. Lurie weigerte sich, seine Arbeiten auf dem Markt zu verkaufen und sieht bis heute keinen Widerspruch darin, sein Geld lieber durch Börsenspekulationen zu verdienen. »Kunst ist Kunst, Geld ist Geld«, kommentiert Volkhard Knigge im Vorwort. Frühe Versuche seitens Galeristen, die NO!art in den hippen Avantgarde-Kreis aufzunehmen, sind entsprechend gescheitert. Alleine zu Wolf Vostell, einem der politischsten unter den Fluxus-Künstlern, bestand eine lose freundschaftliche Verbindung.
Boris Lurie, der unversöhnlich bleiben will, ist kontrovers und hinterlässt damit auch bei Linken einen schweren Kloß im Hals. Im Jahre 1962 druckte er beispielsweise ein Photo nach, das einen ausgemergelten Häftling aus dem KZ Buchenwald zeigte und nannte diese Arbeit ►Happening by Adolf Hitler. Die provozierende Verzahnung von Massenmord und Nachkriegs-Avantgarde ist ähnlich problematisch wie der Versuch, mit dem Nebeneinander von KZ- und Pin-up-Motiven einen historischen Zusammenhang zwischen den Nationalsozialisten und dem US-Kapitalismus herstellen zu wollen. Wenn man dann auch noch liest, dass »der weltweite studentische Schlachtruf USA-SA-SS« schon »Slogan der NO!art-Künstler gewesen sei«, stellt sich die Frage, ob die sinngemäße Feststellung Max Horkheimers, dass man über den Faschismus nicht sprechen könne, ohne auch über den Kapitalismus zu sprechen, hier nicht überstrapaziert wurde. Auch ein Opfer wie Lurie muss sich die Kritik gefallen lassen, mit solch leichtfertigen Gleichsetzungen einer Relativierung des Holocaust unter die Arme zu greifen, die dem gegenwärtigen deutschen Antiamerikanismus, der sich zugleich der eigenen historischen Last entledigen will, geradezu gelegen kommt. Der Faschismus mag sich aus dem Kapitalismus heraus verstehen lassen, es macht jedoch keinen Sinn, den US-amerikanischen Kapitalismus über Faschismus Vergleiche erklären oder gar entlarven zu wollen.
Beim Betrachten von Luries Arbeiten fällt auf, wie stark sie die Ästhetik der Industrial-Bewegung vorweg genommen haben. Es wundert daher, dass dies in der Monographie nirgends erwähnt wird. Die ständigen Überblendungen von Holocaust-Motiven und Bilderabfall der spätkapitalistischen Industriegesellschaft wurde schließlich nirgendwo so obsessiv (und zum Teil naiv) ausgelebt wie in den Spätsiebziger-Arbeiten von Throbbing Gristle, MB und SPK, die sich gegenüber der Musikindustrie schließlich ebenso verweigert haben wie NO!art gegenüber dem Kunstmarkt. Primäres Ziel der Kunst sei, wird Lurie zitiert, »Hervorbringung eines Netzwerkes von gleichdenkenden Künstlerfreunden«; auch dies entspricht den Grundgedanken der Industrial-Bewegung. Ein Großteil der Kritik, die gegenüber Industrial in Sachen Vereinfachung und Missverständlichkeit bereits geäußert wurde, ließe sich also auch auf deren unfreiwilligen Pionier Lurie übertragen.
Publiziert in: testcard, Heft 13 vom 13.07.2004, Ventil Verlag, Mainz
MARTIN BÜSSER, geboren 1968, studierte Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft. In den 1980er und frühen 1990er Jahren war er für das ►"Zap"-Fanzine tätig, für das er um die 100 Interviews führte, unter anderem mit Henry Rollins, Courtney Love, Sonic Youth, Half Japanese, Flaming Lips, Nirvana und Butthole Surfers. Sorgte innerhalb des Hardcorepunk-Magazins für zahlreiche Debatten, weil er den engstirnigen Musikgeschmack der Szene nicht akzeptierte, sondern auch über Künstler wie Heiner Goebbels und John Zorn schrieb. Seit Mitte der 1990er als freier Journalist mit Schwerpunkt Musik, Popkultur und bildende Kunst tätig, Beiträge u.a. für Jazzthetik, Süddeutsche Zeitung, Emma und Die Zeit. Mitbegründer und -herausgeber der seit 1995 im Ventil Verlag erscheinenden Buchreihe
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