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Rudij Bergmann: Wohnen in der Collage
Dokumentation über den NO!art-Künstler Boris Lurie in Buchenwald (2003)

Der Alte aus Manhattan kam nicht zur Vernissage. Boris Lurie, Mitbegründer und bekanntester Vertreter der „NO!art", war in seiner "Räuberhölle" in der 48. Strasse geblieben. Genau die und Luries dortiges Tun und Lassen sind hinreichende Gründe einer Foto- und Video-Dokumentation der israelischen Künstlerin Naomi Tereza Salmon in der Gedenkstätte KZ Buchenwald.

Für den 1924 in Petersburg geborenen, in Riga aufgewachsenen Boris Lurie ist der bei Weimar liegende Ort doppelt bedeutsam. Das Magdeburger Aussenlager von Buchenwald war für den Juden Lurie und seinen Vater das dritte Konzentrationslager, in das man sie verschleppt hatte. Dort sah man 1998/99 eine Übersichtsaustellung, die auch Überlebenden der deutschen Vernichtungslager zu schaffen machte.

Wer „Saturation" betrachtet, 1954-64 entstanden, versteht warum. Eine Collage, streng strukturiert wie ein Ornament. Im Zentrum ein bekanntes Foto: Buchenwald-Häftlinge - halbtote Gespenstergestalten zwischen Lebenserwartung und Gebrochensein. Eingerahmt von einer Fotoserie, die ein Pin-up-Girl in Posen zeigt, deren Versprechungen nichts zu wünschen übrig lassen. Die Freiheit ruft, das ist die zynische Parole, deren Lehrmeister das Leben selbst ist.

Der alte Mann und das Mädchen — es wird auch dieser Zwei-Generationen-Unterschied gewesen sein, der das notwendige Vertrauen schaffte, auf deren Basis die 1965 geborene Foto-Künstlerin in Luries Lebenswelten eindringen konnte. Der 69-jährige wohnt und arbeitet in einer weit verzweigten Collage aus vergilbten Fotos, angebrannten Dokumenten und neuen Notizen an der Wand; umgeben von Farbtöpfen, Kunstwerken in Ecken und Nischen, Börsencharts auf Stuhl und Tisch. Naomi Tereza Salmon liefert authentische Farbfotografien von Luries Lebensraum als Platz ständiger Erinnerung, zu denen auch die Ermordung von Mutter und Schwester gehören. Es sind Luries Lagererfahrungen, die ihn umzingeln.

Lurie ist in seinen gegen allen guten Geschmack gerichteten Bildwerken Dada und Fluxus verwandt. Sie erinnern an den Terror Nazideutschlands, denken aber auch deren massenkulturelle und voyeuristische Rezeption und Verwertung mit. Lurie ist kein Opferkünstler, sondern ein unbedingter Anhänger jener höchsten Kunst, der alle anderen Künste dienen: der Überlebenskunst. Und nicht zuletzt deswegen hat er die Schönen und die Vergasten, die Nackten und die Davongekommenen zu einer schmerzvollen Botschaft formuliert, deren Stärke darin besteht, dass man sich nicht an sie gewöhnen kann... denn: „Wo sollen wir die Aengste/ füllen/ wenn Mutterknochen so/ zersplittert sind." Nachzulesen im Künstlerbuch Geschriebigtes, Gedichtigtes in Luries baltendeutscher Muttersprache — eine Poesie auf des Messers Schneide. Gedruckt in gotischer Schriftart, die dazu zwingt, an das Sieg-Heil-Deutschland zu denken: „Die Hacken schielen in den Nacken./ Die Hacken schwellen auf dem Magen./ Die Luft schmeckt reich mit frischem Sauerstoff./.../ aus sogenannten Alten Zeiten."

Einige dieser Texte sind auf den Säulen des Ausstellungssaals projiziert und als Toninstallation hörbar. Die in Weimar lebende Naomi Tereza Salmon stellt nur acht grosse Fotos aus, hundertfünfzig weitere geben als Dia-Schau Einblicke in Luries Lebenswelten, ebenso die Videoaufnahmen, in denen sie ihn durch Manhattan begleitet.

Boris Lurie ist immer noch ein Geheimtipp. Das ist nicht zuletzt der Ästhetischen Kompromisslosigkeit seiner antikapitalistischen NO!art geschuldet, der eigentlichen Gegenspielerin der zeitgleichen Pop-Art. Von wenigen frühen Ausnahmen abgesehen, hat Lurie seine Kunst nie verkauft und würde es jetzt auch nur tun, wenn Museen und relevante Sammler einen Preis bezahlten, der im Verhältnis zu den Preisen der Pop-Art-Grössen stünde. Kein günstiges Verhandlungsangebot für jene amerikanischen Museen, die sich augenblicklich um Boris Luries Bilder bemühen.

Publiziert in: Frankfurter Rundschau vom 10.12.2003

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RUDIJ BERGMANN der Muse(e)nfreund.Hektisch ist er nicht, der 1943 im Rheinland geborene Filmemacher und Kunstliebhaber Rudij Bergmann, wie man es von einem echten Fernsehmann erwartet hätte. Und er hat so viel zu erzählen, dass es schwierig ist, in seinen umtriebigen Gedankenfluß ein wenig Stringenz zu bringen. Über seine Jugend und Schulzeit schweigt sich der Autor beeindruckender Künstlerdokus zunächst aus. Erst nach Abschluss der Schule scheint es interessant geworden zu sein. Denn Bergmann wollte Schriftsteller werden, und veröffentlichte Gedichtbände. Seine eigentliche Liebe aber galt damals der Politik. Sein Engagement war so stark, dass er selber es als sein „ alter ego“ bezeichnet und das auch der Grund ist, warum er aus der Heimat später in den Südwesten zog. Und er vertrieb er sich die Zeit als Weltenbummler und Bohemien in Köln. „Ich wollte immer Dichter sein“, erklärt Bergmann, daher verkehrte er vorzugsweise in Künstlerkreisen, war aber zwischendurch auch einmal für drei Tage Filialleiter eines Feinkostgeschäftes. Sogar in dunklen rauchigen Jazzkellern spielte er Freejazz auf seinem Saxophon, - „ich führe noch immer ein ZickZackleben“. Durch sein Elternhaus erfuhr er eine gewisse politische Vorbildung, die das Kind Rudij Bergmann durch das Studium der Stücke Camus erweiterte. Die Bühne hat ihn weitergebildet.

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