Angekommen in New York vor über fünfzig Jahren. Kunst war damals noch kein großes Geschäft. Das kam später, aber von dem hat Boris Lurie, der Zuwanderer aus Europa, auch nie etwas gehabt. Jedoch in einschlägigen Kreisen war, blieb und ist er, wie weiland Otto Dix, berühmt und berüchtigt.
1924 in Leningrad geboren, in Riga aufgewachsen, im Jahre 1945, vielleicht aber erst auch erst ein Jahr später, in New York angekommen. Boris Lurie brachte damals im Gepäck die drückende Last Erinnerung mit. An die jüngere Schwester zum Beispiel. Wie die Mutter auch sie verschleppt von jenen, die man so ungenau Nazis nennt. Beide kamen nie wieder zurück.
Das ist die Gegenwart und Vergangenheit, die das russisch-jüdisch-deutschbaltische Gewächs Boris Lurie zur Kunst werden lässt. Dass sich eine solche Kunst wenig um ästhetische Feinsinnigkeiten schert, den Zartfühlenden im Kunstbetrieb auf den Nerven herumtrampelt, aber auch jenen vermutlich den Atem stocken lässt, deren Schicksal sie thematisiert, macht die Kraft dieser Bildwerke aus, die nun ab morgen in der Gedenkstätte des KZ Buchenwald alle Chancen haben, die Gemüter zu erregen.
Zum Beispiel: Saturation Paintings (Buchenwald), Fotos und Zeitungsausschnitte von Lurie formal streng auf Leinwand collagiert. Im Mittelpunkt ein Foto, das Buchenwald-Häftlinge am Stacheldraht, vermutlich auf ihre Befreiung wartend, zeigt Gesichter, in denen sich Tragik und Hoffnung, Lebenserwartung und Gebrochensein spiegeln. Umrahmt ist dieses Foto von solchen, die ein Pinup-Girl in eindeutigen Posen und Versprechungen zeigt. Auch das ist die Freiheit, die jene erwartet, die solange unter mörderischen Bedingungen auf vielfältiges Leben verzichten mussten. Die Schönen und die Nackten, die Vergasten und die Heiligenbildchen hat Boris Lurie auf den Schmerz — und lustvollen Nenner Leben gebracht. Bildwerke gegen das Vergessen, aber auch Kunststücke, die sich weder vereinnahmen lassen wollen noch Wegschauen legitimieren. Radikal wie in diesem Jahrhundert kaum einer zuvor hat Boris Lurie die Gleichzeitigkeit der Ereignisse künstlerisch manifestiert. Das Entsetzen gepaart mit dem Prallen, die Lust mit dem Grauen. Und den erlebten Schrecken zu bannen gesucht in der Manier von Concept-Art. Luries Lebens- und Kunstart, die ihre Wurzeln nicht zuletzt bei Goya und den Dadaisten hat, lässt sich unschwer eine Korrespondenz bis zum zeitweiligen Gleichklang zur politischen Fraktion von Fluxus herstellen. Und tatsächlich hat der französische Fluxist Jean-Jacques Lebel in New York mit Boris Lurie und der von ihm sowie Stanley Fisher und Sam Goodman bestimmten NO!art-Bewegung zusammengearbeitet. Ein Künstlerformation von 1959 bis 1964, der nichts heilig war.
Auch Wolf Vostell, der politischste unter den Fluxisten, hat mit Boris Lurie zeitweise eng zusammengedacht und war mit ihm lebenslang befreundet. Ein Blick in den Katalog zur wohl besten Vostell-Übersicht in dessen letzten Lebensjahren, die ihm Ulrike Rüdiger in Gera 1994 ausrichtete, zeigt wie sehr Lurie und Vostell in Teilbereichen miteinander verflochten waren.
Lurie weiß, sie ist schmal, die Grenze zwischen den verschiedenen Lust- und Folterkammern der Welt. Und er stellt sie schonungslos dar in seiner Mix-Media-Kunst aus Foto, Farbe, Fundstücken und Parolen. Und im Detail der Männerphantasien, die ja auch die eigenen sind, die vom Anfang bis in alle Ewigkeit changieren zwischen dem Weib als Vamp und Biederfrau. Die im Kalten Kriegsjahr 1960 nicht zufällig Frau Chruschtschowa heißt, die einen so gutmütig-mütterlich in Oh, Mama Liberté entgegen lächelt. Jenem Bild des Desperaten, das politisch, expressiv und insgesamt allumfassend pornographischer gesellschaftlicher NO!art-Gegenschlag ist wider alles Gute, Schöne, Teuere.
Es klingt wie ein allzu oft erzähltes Künstlermärchen. Aber Boris Lurie hat so gut wie nie ein Kunstwerk verkauft; obzwar New Yorks Stargalerist Castelli durchaus auch an NO!art interessiert war. Sein Geld verdient der Artist mit Aktien und Wertpapieren; per Online, Fax und Telefon in seiner Chaoswohnung in Manhattan. Über die Frage, ob das nicht gegen die eigene künstlerischpolitische Moral sei, kann der Mann, der verschiedene KZs, auch ein Außenlager jenes von Buchenwald, überlebte, nur müde Lächeln.
In den Pin-up-Girls erkannte er das wahre Amerika. Doch trotz des gefährlichen voyeuristischen doppelbödigen Spiels, das er treibt, geht es nicht um pralle Brüste. Mit Sex und Crime attackierte der Künstler jene gesellschaftlichen Obszönitäten, die zum Vietnamkrieg, zu Rassenunruhen und zur Neuformierung einer auch radikalen Linken führte. Und der weltweite studentische Schlachtruf USA-SA-SS ist Slogan der NO!art-Künstler gewesen, die Teil der Neuen Linken war. Und auch das war und ist NO!art: Die eigentliche Gegenspielerin der weltweit siegenden (?) Pop-Art.
Und Boris Lurie ist, salopp gesprochen, der Andy Warhol der NO!art-Artisterei; einer Kunst, die gnadenlos gegen den guten Geschmack vorgeht und die immer noch nicht Heimstatt in Museen und Sammlungen gefunden hat. Was politisch gut und schön sein mag, doch um der Kunst Willen schade ist.
Obzwar Boris Lurie in seiner Zwangs- und Wahlheimat New York wohl selten nur eine Synagoge betreten hat, ist er kein US-assimilerter Jude, eher schon eine alttestamentarische Gestalt mit Bild- und Wortbotschaften, die, als Gedichte verfasst, sich des aussterbenden Baltendeutschen bedient, seiner eigentlichen Muttersprache.
Publiziert in: Thüringer Allgemeine, Weimar, 12.12.1998