[1] Neue Kunst muss klarstellen, dass die Sensibilität umstrukturiert werden
muss.
[2] "Anti-Kunst" ist die neue Kunstrichtung, die gefordert wird
[3] Gängige künstlerische Konzepte sind aus etlichen Gründen inadäquat.
[4] In der "Anti-Kunst" sind existierende Kriterien nicht anwendbar.
[5] Existierende Kriterien müssen über Bord geworfen werden; mit Widerstand
von unerwarteter Seite ist zu rechnen.
[6] Lurie, Goodman und Fisher (March Galerie) gaben wichtige und bis heute
nicht anerkannte künstlerische Anweisungen.
[7] Was ist bisher geschehen? Gängigen Trends wurde Widerstand geboten;
formale Mechanisierungen in der Kunstproduktion und im Kunstkonsum
wurden provoziert.
[8] Die Aktivitäten der March-Galerie waren von vorausschauender Bedeutung:
Gegenwärtige ästhetische und konzeptionelle Probleme in der Neuen Kunst
wurden vorausgesagt.
[9] Die Schriften zeitgenössischer Kritiker und Philosophen tragen erst jetzt, d.h.,
verspätet, dazu bei, dass gewisse Trends der 10ten Straße aus den frühen
60er Jahre zur Kenntnis genommen werden
[10] Philosophische und kritische Erklärungen von ►Herbert Marcuse, ►Barbara
Rose, ►David Lee, ►Frederick Castle, ►Marshall McLuhan, ►Lucy Lippard,
►John Perreault und anderen unterstützen mit ihrer Bedeutung die hier
beschriebene anarchistische, ;anti-autoritäre "Anti-Kunst"-Bewegung.
Die frühen 60er Jahre
Niemand kümmerte sich in den Jahren 1959 bis 1964 groß um die Aktivitäten der March-Galerie unten in der 10ten Straße oder später "Uptown" bei Gertrude Stein. Wenn man rückblickend die Hauptströmungen der Modernen Kunst der 60er Jahre betrachtet, fällt einem auf, dass vieles, was in diesem Jahrzehnt wichtig war, seinen Ursprung in den Ausstellungen der March-Gruppe gefunden hat. Mit dabei waren damals unter anderen Boris Lurie, Sam Goodman, Stanley Fisher, Yaoi Kusama, Ferro (Erro), Jean-Jacques Lebel und von Zeit zu Zeit auch andere.
Verteidigung des Establishments
Es gibt kaum ein Anzeichen dafür, dass die meisten Pop-Künstler sich der durchaus realen repressiven Natur der kapitalistischen Allianz von Militär und Industrie voll bewusst waren. Es ist eine unbesorgte und oberflächliche Behauptung, in der Relevanz der Pop-Bewegung eine Form des gesellschaftlichen Protestes zu sehen. Sogar die Künstler selber lehnten es ab, dass man ihre Bewegung mit gesellschaftskritischen Strömungen in Verbindung brachte. Allerdings geben sie zu, die traditionelle Funktion des Künstlers wahrgenommen zu haben, indem sie als Zeugen der Geschehnisse innerhalb der gesellschaftlichen und materiellen Umgebung aktiv wurden. Pop-Art ist daher kaum eine soziale Protestbewegung, sondern vielmehr eine Stilrichtung innerhalb der Hauptströmung der westlichen Kunst und der westlichen künstlerischen Tradition. Die andere größere Stilrichtung zu der Zeit, nämlich die Minimai-Art, bleibt ebenfalls eine Kunstform des "Establishments".
Entritualisierung
Mit dem, was die NO!-Künstler der March-Gruppe in den frühen 60er Jahren machten, leiteten sie den Prozess der Entritualisierung in der Kunst ein. Das ist ein neuer kultureller Prozess, der einiger Erläuterungen bedarf, da er in zahlreichen modernen Phänomenen auftaucht und Anerkennung gefunden hat. Manchmal weist sogar unsere Art und Weise, wie wir uns kleiden, auf diesen Entritualisierungsprozess hin. Auch Form und Inhalt einiger neuerer Arbeiten der Visuellen Kunst und der Marcel Duchamps bestätigen Ansätze dieses Prozesses, der dann von den NO!-Künstlern der March-Gruppe bis in die Gegenwart fortgesetzt wurde. Die Uniformität bietet schon lange keinen Schutz, kein Prestige oder sonst etwas mehr. Man ist heute am Entritualisierungsprozess interessiert. Kinder tragen heutzutage militärische Uniformrelikte, nämlich Arbeitsjacken, Bombermäntel mit Rangabzeichen, Seemannshosen, Tarnjacken, U.S.-Army-Auf-kleber, usw. Und warum? Mit derselben Absicht sammelten die NO!-Leute verschiedene traditionelle bildnerische Mittel und arbeiteten mit diesem Mischmasch, nämlich mit den Farbverläufen und "Flecken" der Abstrakten Expressionisten, mit dem Trödelkram der Assemblage-Künstler, mit Materialien der Happening-Akteure, mit Plakaten und Popbildern. So wie die Jugend die einheitliche militärische Uniform in ihrem Sinne zerteilte, so zerrissen die NO!-Leute die ästhetischen Zusammenhänge und die ästhetische Integrität. Die Uniform gilt nur etwas, wenn sie vollständig ist, d.h. unzerrissen, poliert, eindeutig und intakt. Wenn sie etwas vermitteln soll, so muß sie exakt gebügelt sein, müssen blanke Knöpfe dran sein. Hier gleichen sich die herkömmlichen Kunststile mit den militärischen Uniformen. Ist dem nicht so, bezeichnet man es mit "Anti"-Haltung, nennt es eine Karikatur, hält es für eine Beleidigung, einen Affront und es wird eine Protesterklärung daraus. In der March-Gruppe fanden wir Lurie, der tote Tiere gezeigt hatte, genauer, abgehackte Hühnerköpfe in einem Plastikkasten, oder Goodman, der frische Scheiße in Schachteln zeigte. Dies sind nur zwei Fälle, um sie einmal zu nennen.
Anti-Kunst
Die NO!-Künstler machten den Fehler, ihre ästhetischen Provokationen als "Kunst" anzubieten. Wir lassen uns zwar fast alles gefallen, nämlich Schmutz und Müll an jeder Straßenecke, schlag- und schießwütige Polizisten, Abrisse von schönen Wohngebäuden, was die Innenstädte mehr und mehr verödet, Lehrer, die Kinder genauso hassen wie sie sie unterrichten, Faschisten in hohen Positionen, die skrupellos der Welt ihre Visionen aufzwingen wollen, - fast alles, wir lassen es uns nur nicht gefallen, wenn jemand mit unseren Begriffen von Gott, Vaterland und Kunst herumspielt und sie versucht zu "verfälschen", in Frage zu stellen. Nur muss wenigstens noch mehr in Frage gestellt werden als all das. Die Reihenfolge dabei spielt keine Rolle. Und das genau geschah in den frühen 60er Jahren. Unser Kunstbegriff wurde quasi auf den Kopf gestellt, und zwar mit einem ernsten Anliegen . Die Folgen dieser frühen, manchmal groben, aber immer totalen, das Ganze betreffenden Anstrengungen, den vorherrschenden ästhetischen Trend zu untergraben, kann man heute stärker spüren als jemals zuvor.
Herbert Marcuse hat darauf hingewiesen, dass die Graffiti der Pariser Mai-Unruhen 1968 Anti-Kunst darstellten, weil sie völlig spontan entstanden waren, und nicht auf einer überlegten künstlerischen Intention basierten. Ob die Anti-Kunst-Arbeiten der Pioniere der March Galerie nun aus einer überlegten künstlerischen Intention heraus entstanden sind, sei dahingestellt. Es steht jedoch fest, dass ihre künstlerischen Absichten nicht mit den formalästhetischen Bedingungen dieser Zeit übereinstimmten. In "An Essay on Liberation" (Versuch über die Befreiung) schrieb Herbert Marcuse: " ... die ent-sublimierte Kunst und Anti-Kunst von heute nimmt in ihrer Negativität einen Zustand ,vorweg', wo die Produktionsfähigkeit der Gesellschaft der kreativen Fähigkeit der Kunst angeglichen ist ... Die aufrührerische, unhöfliche, absurde künstlerische Ent-Sublimierung bildet ein wesentliches Element der radikalen Politik; der umstürzenden Kräfte im Übergang." (Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M., S. 329) Deshalb muss man Anti-Kunst-Werke auch außerhalb des Bereichs der formalen Kunst suchen. Genau diese Haltung unterscheidet die Kunstwerke der March-Gruppe von denen der anerkannten Hauptströmungen in der Kunst. Wollen diese Arbeiten jedoch überhaupt als Kunst angesehen werden, müssen sie zur gleichen Zeit " ... eine produktive Kraft im materiellen wie auch im kulturellen Umbruch werden ..., indem sie die Qualität und ^Erscheinung' der Dinge in eine Form bringen, indem sie Realitäten bilden, den Lebensstil gestalten." Einige Kritiker werden da argumentieren, dass die Kunst das immer getan habe, zumindest teilweise. Marcuse erklärt jedoch weiter, wenn die Kunst in eine wahrhaftige Produktivkraft verwandelt werden soll, erfordere das "das Ende der Trennung des Ästhetischen vom Wirklichen ... aber ebenso das Ende der kommerziellen Vereinigung von Geschäft und Schönheit, von Ausbeutung und Genus". Wir können feststellen, dass die March-Leute uns "ästhetisch" aufgeklärt haben, indem sie die Phantasie innerhalb der neuen Moralvorstellungen aktivierten. Ähnliches reflektierte etwa auch die neue (Underground-) Presse und im weiteren Sinne auch die Neue Linke, denen es anscheinend gelungen ist, die rigiden Konstruktionen der kapitalistischen Unterdrückung zu durchbrechen.
Die NO!-Künstler der March Galerie forderten mit ihren Arbeiten eine Veränderung der vorherrschenden Sehgewohnheiten zu jener Zeit heraus, und das ist auch der Grund, warum man ihren Arbeiten den Titel "Anti-Kunst" verleihen kann, denn die Zielsetzung der Anti-Kunst beinhaltet nicht, sich als Kunst einordnen zu lassen, sondern sie will als Kunst einfach unakzeptabel sein.
Man kann voraussetzen, dass nur auf Widerstand stoßende Aktivitäten eine neue Einstellung, eine Veränderung, eine Revolutionierung der Fähigkeiten und Möglichkeiten erzwingen können, die letztendlich notwendig sind, um dem Einzelnen die Bedeutung und die Effektivität empfangener Informationen klar zu machen.
Technologie und Freiheit
In den frühen 60er Jahren verarbeiteten viele Künstler in ihren Arbeiten verschiedene neue technologische Erfindungen, die häufig sogar zum Hauptinhalt in ihrer Kunst entwickelt wurden. Es ist bemerkenswert, dass sich die March-Leute nicht auf technologische Spielereien einließen. Und wiederum muss man ihnen, nach alledem, was bisher geschehen ist, bestätigen, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Marcuse sagt dazu: " ... Freiheit beruht zum größten Teil auf technischem Fortschritt, auf dem Fortschritt der Naturwissenschaften. Diese Tatsache verschleiert leicht die wesentliche Voraussetzung; um nämlich ein Vehikel für die Freiheit zu werden, müssten Naturwissenschaft und Technologie ihre gegenwärtige Richtung und ihre Ziele ändern: Sie müssten in Übereinstimmung mit einer neuen Sinnlichkeit rekonstruiert werden." Hier wird dem Künstler von Marcuse erschreckend viel Verantwortung aufgebürdet, nämlich die, eine neue Sinnlichkeit zu strukturieren. Wenn der Künstler also nicht seine ihm zugedachte Rolle im technologischen, kulturellen und politischen Umsturz gewissenhaft erfüllen kann und wenn er um die Erfahrungen und Anfechtungen weiß, die seinen Weg kreuzen werden, kann er nicht hoffen, als relevanter Faktor zu gelten, der die Richtung der Revolution und das Environment einer wirklichen Freiheit mitbestimmt. Diesen Gedankengang scheint die March-Gruppe genau verstanden zu haben, denn sie weisen uns darauf hin, dass ihre Kunst im wesentlichen nichts enthält, jedoch Verwirrung, negative Reaktionen und Missverständnisse erzeugt. Die March-Künstler wollten die Leute nicht in die Irre führen und duldeten auch nicht irgendwelche Doppeldeutigkeiten zu der Zeit. So warnt Marcuse: "Der kapitalistische Fortschritt ... hat nicht nur den Ausgangsort für die Freiheit eingeschränkt, den ,offenen Raum' der menschlichen Existenz, sondern auch die ‚offene Sehnsucht', das Bedürfnis nach einem solchen Ausgangsort."
Kunst als Ware
Zuguterletzt kann man feststellen, dass die NO!-Künstler in der Ablehnung der Kunst als Ware schon eine gute Strecke Weges vorangekommen sind. Heutzutage sind etliche Künstler zu ähnlichen Standpunkten gelangt, so z.B. die Land-art Künstler. Andere Beispiele zeigt das Whitney Museum mit seiner "Anti-lllusion"-Ausstellung im Sommer 1969. Die Konzeptkünstler gingen sogar noch weiter, indem sie klarstellten, dass man Kunst nicht mehr als Ware definieren kann, ja nicht einmal als ein materielles Objekt mit irgendeinem Handelswert. Und das ist die logische Fortführung der Ideen, die die March-Leute schon Anfang der 60er Jahre hinsichtlich des Kommerzes entwickelt hatten und hegten. Sie stimmen auch mit den Ideen Marcuses überein, der dazu feststellt, dass "die sogenannte Konsumwirtschaft und die Politik der kapitalistischen Gesellschaft eine zweite Natur des Menschen hervorgebracht hat, die ihn libidinös und aggressiv an die Warenformen bindet. Das Bedürfnis nach dem Besitz, dem Konsum, dem Bedienen und der ständigen Erneuerung von technischen Geräten, Anlagen, Werkzeugen und Maschinen, die dem Menschen angeboten und aufgezwungen werden, damit sie diese Waren benutzen, selbst auf die Gefahr der eigenen Zerstörung hin, ist ein biologisches Bedürfnis geworden ..." Die NO!-Künstler der March Galerie initiierten in der Kunst eine Freiheit, die viel Zeit braucht, um in das allgemeine ästhetische Bewusstsein einzudringen, jetzt aber erst ihre Früchte zeigt. Sie widersetzten sich dem elitären Denken in der Kunstszene und mieden den Kunstmarkt, der bisher von Ausbeutung bestimmt war und " ... damit vorrangig die Klassenstruktur der Gesellschaft bestätigte."
Publiziert in: ►Lurie, Boris; Krim, Seymour: NO!art, Köln 1988