Mir scheint, dass nicht zufällig die ätzenden Wolken von Sartres Fiktion des Ekels über den Nachkriegsjahren hingen. Denn dämonenhafter Zweifel und Abscheu belastete die 50er Jahre und machte sich überall breit, ein Nährboden für das, was in der March Galerie geschah, sich ereignete...
Rückblickend, im Abstand von zehn Jahren, lohnt es sich jetzt noch, die damaligen - eigentlich ironischen - grotesken „Demonstrationen" in jener Kunstszene ernsthaft zu diskutieren. Der Ekel hat sich nicht gelegt, sondern lugt weiterhin hinter so mancher Maskierung hervor. Und dieser Ekel war eine Herausforderung. Eine Herausforderung für die Künstler, für die Kunst selbst. Slogans wie „Art is the Artist" oder die neuere Bewegung der „Anti-Form"-Kunst haben ihren Ursprung im Denken der 50er Jahre.
Wenn ich mich an die Stimmung in der 10ten Straße in jenen Tagen erinnere, so fällt mir auf, dass die March Galerie eigentlich ein Anziehungspunkt für Andersdenkende aller Schattierungen war. Andersdenkende unter dem herrschenden politischen Druck. Andersdenkende, die den Betrug um sich herum sahen. Waren denn die Konzentrationslager wirklich keine Lehre, kein Signal gewesen? Solche Gräueltaten setzten sich im Koreakrieg fort und dann auch in Vietnam. Und das „Algerie Francaise" ist uns allen gegenwärtig.
Viele Künstler, die von der negativen politischen Einstellung der March Leute mobilisiert worden waren, wussten zudem genau Bescheid über das, was anderswo geschah. Die Nachkriegszeit entwickelte sich besonders seit den 50er Jahren mehr und mehr in einen dauernden Kriegszustand. Nichts von Sartres optimistischer dauernder Revolution war zu bemerken. Nur ein unaufhörliches Blutbad.
Und die Künstler, die da nicht mehr untätig zusehen wollten, trafen sich mit Gleichgesinnten aus anderen Bereichen unter dem Deckmantel der Kunst, weil sie hierin einen geduldeten Lebensraum für ihre Äußerungen fanden, der ihnen in anderen Bereichen der Gesellschaft verwehrt wurde. Sie gesellten sich zusammen in gemeinsamer Abscheu dessen, was sich an Grausamkeiten um sie herum entwickelte.
War es nicht gerade bezeichnend für die Bewegung, dass die March Galerie nicht zu ebener Erde lag, sondern vier Treppen tiefer, nämlich in einer Art Keller? Wenn ich mich recht erinnere, begannen die March Leute mit ihrer Arbeit wie jede andere Produktionsgemeinschaft: Die unterschiedlichsten Teilnehmer kamen und gingen. Doch allmählich wurde sie zum Sammelpunkt für jede Art von gesellschaftlich Andersdenkenden. Die politischen Ereignisse der 50er Jahre hatten viele von ihnen mit wachsender Mutlosigkeit erfüllt. Ein Verrat folgte dem anderen. Und was man einst mit Begeisterung suggerieren wollte, nämlich dass Kunst eine fortgesetzte Revolution sei, schien jetzt angesichts Koreas, Algeriens, McCarthys, ... nichts mehr Wert zu sein. Aus diesem ständig wachsenden Ekel, dieser Übelkeit heraus erwuchs in jenen Tagen die March Gruppe mit ihrem gesellschaftlichen Protest und ihrer Empörung über die herrschende Politik. Ihr Angriffsziel war nicht die Kunst selbst, sondern die Gesellschaft, die sich in aller Ruhe Kunstbetrachtungen hingab, während jeden Tag Verbrechen unaussprechlichen Ausmaßes begangen wurden. In jener Zeit bedeutete es wirklich etwas, wenn man sich über die Park Avenue lustig machte. Dort saßen nämlich all die „Kunstsammler“, die damals dazu übergegangen waren, Künstler zu erwerben, und dafür in ihren Wohnungen richtige Museumsbeleuchtungen aufzubauen und zu installieren. Bei denen sieht es heute noch wie im Museum aus. Es war auch die Zeit, als man in diesen Uptown-„Asylen" sogar Allen Ginsberg feinen schottischen Whisky saufend antreffen konnte. Es war die Zeit, in der die Künstler mit ihrer unbequemen charismatischen Berufung die Reichen auf ihre Seite zogen und deren Überzeugung in Frage stellten.
1960, als Boris Lurie seine erste Einzelausstellung „Adieu Amerique" gemacht hatte und ich mit einigen Freunden aus Unruhe über die Verhältnisse das „Night-Letter-Commitee" gründete, war die große Aufregung über die Neue Amerikanische Malerei zu Ende. Zu Ende war es auch mit der amerikanischen Eigenart, dauernd optimistisch zu sein. Wir alle waren beunruhigt. Die meisten von uns hatten begriffen, dass das zersetzende Vermächtnis des Geschehenen bereits für immer unser ganzes Land vergiftet hafte.
1960 auch sah ich Boris Luries Collagen. Es waren die mit den häufigen Hinweisen auf Konzentrationslager, in denen Lurie gesessen hatte, die Collagen, die offen die allgemeine amerikanische Kultur anklagten. Sah auch Arbeiten von anderen Mitgliedern der March Gruppe in der Vulgär Ausstellung. An ihre Thematik kann ich mich noch genau erinnern: Atombombe, Konzentrationslager, verseuchte Nahrungsmittel, die Lynchjustiz in den Südstaaten, der kommerzialisierte Sex, die berufsmäßigen Massenmörder. Darüber, ob das Kunst war oder nicht, zerbrach ich mir nicht den Kopf. Vielmehr sah ich, dass sich hier eine Subkultur der Ablehnung kristallisierte. Hier gebrauchte, benutzte man jegliches verfügbare Mittel, um die neuen politischen Werte zu formulieren. Luries und Goodmans Mitteilungen hatten eine große Resonanz in der unzufriedenen amerikanischen Jugend. Sie kamen in Scharen zu ihnen. Sogar in der Uptown-Presse wurden ihre Botschaften erwähnt, wenn auch in verächtlichem Tonfall: So etwas hätte mit Kunst nichts zu tun.
Dann lud Boris Lurie zur Involvement-Ausstellung in der March Galerie ein. Sie stand unter dem Motto. ..In Zeiten von Krieg und Vernichtung reicht es nicht aus, sich in der Kunst mit ästhetischen Übungen und dekorativen Bildchen abzugeben". Er verkündete unheilvoll: „Denk daran, auch in Dir steckt ein ‚Eichmann'!" Im Jahr darauf machte er zusammen mit Sam Goodman und Stanley Fisher die Doom-Ausstellung und erinnerte uns wieder an das kränkelnde Kunstestablishment. Diese Ausstellung war die reinste Schweinerei. Ich weiß es noch genau. Doch muss ich immer wieder erwähnen, dass die in ihren Collagen und Plastiken verwendeten Ausdrucksmittel weder geistreich, brillant, noch kritisch im Sinne der Tradition der politischen Kunst war. Ihre einzigartigen Ausdrucksmittel wurden aber von einer zunehmenden Zahl Andersdenkender verstanden. Sie waren aus tiefster Seele ekelhaft.
Ich kann mir nicht helfen, von der NO!-Ausstellung war ich überwältigt. Schon zu der Zeit war ich für „NO", war gegen Vietnam, gegen die von Eisenhower überlieferte Doktrin von der Wichtigkeit der Kriegsindustrie, der Kriegsrüstung. Die NO!-Ausstellung war keine Kunstausstellung im herkömmlichen Sinne. Sie erzeugte einfach die großartige Stimmung, NO/Nein sagen zu müssen.
Mir scheint, dass die gemeinsame Ausstellung von Sam Goodman und Boris Lurie in der Gertrude Stein Galerie das endgültige Statement der March Gruppe war. Hier sah man echte Scheiße, und zwar modelliert zu richtigen künstlerischen Gebilden. Eine nihilistische, anarchistische Erklärung. Das waren die Ausdrucksformen der heranwachsenden Subkultur. Doch moralische Entrüstungen und Ungültigkeitserklärungen beinhalten immer eine gewisse Pathetik. Vielleicht war das der Grund, warum sich in der Mitte der 60er Jahre diese Ablehnungsbewegung auflöste, so wie die Dadaisten auseinandergegangen waren, einfach um revidierten Wertvorstellungen Platz zu machen. Merdre, alors! Eine endgültige und unbestreitbare Feststellung, die jede weitere Diskussion unterband.
Alles in allem, Ekel und Ruhelosigkeit — die Motivationen für die Ereignisse in der March Galerie — sind mittlerweile Tradition in der „Subkultur". Der bleibende Wert des „NO!" als schöpferische Kraft offenbart sich in den vielfältigen Akklamationen der Künstler in den urbanen Gesellschaften. Obwohl man sich über die Grundgedanken der vor nicht allzu langer Zeit gegründeten „Art Worker's Coalation" streiten kann, bleibt es doch eine Tatsache, dass größere Kreise in der Kunstszene von einer echten Bewusstseinskrise erfasst worden sind. Seit Mitte der 30er Jahre — damals forderte die Volksfront gegen den Nationalsozialismus die modernen Künstler heraus — sind Diskussionen um Fragen wie z.B. die Rolle des „reinen" Künstlers in der Gesellschaft nicht mehr so leidenschaftlich aufgebrochen. Der der NO!art zugrunde liegende Nihilismus hat allerdings heute einen Bedeutungswandel erfahren. Bemühungen, den Depressionen der Jugend in den 50er und anfangs der 60er Jahre mit neuen Aktionen entgegenzutreten, und die Möglichkeiten, etwas ändern zu können, hatten an Kraft gewonnen. Die politische Krise in den Vereinigten Staaten veränderte nicht nur die Einstellung der jungen Künstler im Innersten, sondern auch die Art und Weise, wie sie in ihren Arbeiten vorgingen, mit welcher Berechtigung sie sich Künstler nannten. Das war ein Umschwung. Seit vielen Jahren konnte man zum ersten Mal von einem optimistischen Aspekt sprechen, schon allein im Hinblick auf die Künstler, die das Staffeleibild und die akademische Plastik über den Haufen warfen und sich für Aktionen, Ereignisse, kurzlebige Dinge, ... entschieden.
Die wichtigsten Gedanken der March Gruppe wurden inzwischen verfeinert, weitergetragen, die ursprünglichen Quellen blieben jedoch erhalten: der Mangel an geistigem Lebensraum, die tiefe Unzufriedenheit und die erschreckende Furcht. Viele Amerikaner sehen heute in der Kunst den Lebensraum, in dem sich die verschiedensten Aktivitäten verfolgen lassen, deren Realisation in anderen Bereichen des amerikanischen Lebens einfach nicht möglich ist. Die Werte, die die Bewegung der „Anti-Form"-Künstler bestimmten, haben letztendlich wenig mit einer unverständlichen „schönen" Kunst zu tun, sondern haben in zunehmendem Maße eine wichtige Bedeutung für eine Gesellschaft, die keine Moral mehr kennt, die sich nach neuen Werten sehnt, und das schon seit den ersten frühen Ereignissen in der 10ten Straße.
Publiziert in: ►Lurie, Boris; Krim, Seymour: NO!art, Köln 1988